Norbert Niederkofler
Kehrtwende in die Zukunft
Norbert Niederkofler gab Steinbutt und Gänsestopfleber auf, um mit Gams und Zirbensprossen das Glück zu finden. „Cook the Mountain“ war ein Risiko, das mit dem dritten Michelin-Stern belohnt wurde. Heute ist eine solche Fine-Dining-Küche längst salonfähig – und der Südtiroler muss auf zu neuen Missionen.
(Portrait)
Extrem anstrengend. Unwahrscheinlich viel Kritik. Enorm viel Aufklärungsarbeit. Die Worte, mit denen Norbert Niederkofler die Kehrtwende seines Lebens skizziert, lassen auf einen kräftezehrenden Kampf schließen. Der Südtiroler Koch hatte im Jahr 2008 begonnen, sein Fine-Dining-Konzept auf den Kopf zu stellen: Internationale, gleichsam anonyme Zutaten sollten von solchen aus einem engen Herkunftsradius abgelöst werden, von Zutaten aus den Bergen. Im Jahr 2012 erhielten Gänsestopfleber, Jakobsmuscheln und argentinisches Rind, aber auch Zitrusfrüchte und Olivenöl im Fünf-Sterne-Hotel Rosa Alpina in den Dolomiten endgültig Hausverbot. Stattdessen zogen im dortigen Restaurant St. Hubertus Graukäse, vergessene Rübensorten, wilde Beeren und hochalpines Wild ein. Der Name dieses radikal regionalen Konzepts, das im Nachhinein auch als Suche nach einer neuen Definition von Luxus zu lesen ist: „Cook the Mountain“.
Ein Koch, der seinen Zutatenfundus freiwillig beschneidet, statt aus dem Vollen zu schöpfen – so wirkt das auf den ersten Blick. Die scheinbare Einschränkung sollte sich freilich als ungeahnt starker Kreativitäts- und Recherchemotor herausstellen: Wenn Ingredienzien allein aus Gründen des Herkunftsradius nicht mehr erlaubt sind, muss man Ersatz finden – und gleichzeitig in die Tiefe gehen, die Biodiversität ausnützen.
Was könnte etwa die gewohnte Säure von Zitrusfrüchten ablösen? Niederkoflers Team ließ unter anderem die Fermentation für sich arbeiten.
Welche Früchte stehen zur Verfügung, wenn die Exoten verboten sind? Preiselbeeren, Sanddorn, Vogelbeeren, Kornelkirschen und gelbe Pflaumen, um nur einige zu nennen, sind heute fixe Mitglieder der Zutatenfamilie.
Und welche reizvollen Unbekannten warten überhaupt da draußen, die zum Motto „Cook the Mountain“ passen? Diese Liste ist länger, als Norbert Niederkofler das erahnen konnte, als er das Konzept zu „Cook the Mountain“ schrieb. Forellenbäckchen. Flechten. Lärchenzapfen. Schafrippchen. Violette Karotten. Rinderzwerchfell. Meisterwurz. Und und und. Zutaten, die auf ihre Art ebenso rar sind wie handgetauchte Jakobsmuscheln oder Alba-Trüffeln.
Eines der Wörter, die der Südtiroler am meisten in den Mund nimmt, wenn er von seiner Umstellung erzählt, ist Überzeugungsarbeit. Schon lange bevor sein Publikum überzeugt werden musste, galt es, seine Mitarbeiter:innen und seine Lieferant:innen auf die neue Philosophie einzuschwören. Oder, anders gesagt: Norbert Niederkofler musste erst einmal neue Lieferant:innen finden. Denn während bis dahin ein Anruf beim Nobelgastronomieversorger Rungis Express gereicht hatte, um sich den benötigten Nachschub zu sichern, musste er, der Zweisternekoch, nun seine Gummistiefel anziehen und in Ställe und auf Felder stapfen. Er musste Lammbauern und -bäuerinnen überzeugen, ihre Tiere jünger, also mit geringerem Gewicht zu schlachten – „die erste Antwort war immer ein ‚Aber‘“. Mittlerweile nimmt er ihnen das ganze Tier ab. Gemüsebauern und -bäuerinnen mussten bearbeitet werden, damit sie spezielle, ihnen unbekannte Sorten aussäen. Auch hier: „‚Aber‘.“
Zu Beginn war daher Improvisation Niederkoflers ständiger Begleiter: Die großen Gastroversorger:innen mit ihrem weltweiten Netzwerk hatten pünktlich und verlässlich geliefert. Seine neuen Lieferant:innen konnten noch nicht mit derselben Beständigkeit dienen. Was freilich auch am Konzept von „Cook the Mountain“ lag: Denn die alpine Natur ist nun einmal nicht beständig. Und wenn ein Credo lautet, keine Produkte aus Gewächshäusern zu verwenden, dafür auf umso mehr wild Gewachsenes zu setzen, auf Pilze, auf Beeren, dann schränkt dies die Kontinuität des Nachschubs naturgemäß ein.
Die Umstellung war ein mutiger Schritt, ein riskanter. Niederkofler hatte schließlich nicht zuletzt zwei Michelin-Sterne zu verteidigen. Wie würde der einflussreiche Guide seine neue Küchenlinie finden? Und wie würden die Gäste reagieren, die Journalist:innen? Was die Gäste, zumindest einige, davon halten würden, darauf hatten seine kleinen Umfragen an den Tischen in den Jahren davor Hinweise gegeben. „Ich habe meine Gäste gefragt, warum kommt ihr eigentlich zu uns? Regionalität war eine Antwort. Die Leute wollten die Berge nicht nur besteigen und befahren, sondern auch schmecken.“ Er sah sich bestärkt. Die Reaktionen, als es so weit war, erwiesen sich aber doch als vielfältiger. Es gab Lob und Begeisterung, aber auch Unverständnis. „Ich will meine Gänsestopfleber.“ (Bei vierzig Reservierungen wurde sicher dreißig Mal Gänsestopfleber bestellt, erinnert sich Niederkofler.) Oder: „Warum macht ihr das jetzt so?“
Ja, warum eigentlich? Ethische Gründe, Nachhaltigkeitsgedanken waren dabei. Niederkofler ist etwa überzeugt, dass die Weltbevölkerung auf lange Sicht nur durch ein engmaschiges lokales Produzentennetz zu ernähren sein wird. Aber auch etwas anderes hatte sich in ihm festgesetzt: „Mir erschien das damals als der einzige Weg, auf drei Sterne zu kommen. Ich wollte nicht mehr vergleichbar sein.“ Er sollte recht behalten: 2016, mit Mitte fünfzig, erhielt er vom Guide Michelin den dritten Stern: „Ich glaube, ich war der älteste neue Drei-Sterne-Koch der Welt.“ Drei Sterne für eine Küche, die zur Gänze ohne so genannte Luxusprodukte auskommt, dafür Prinzipien wie Zero Waste verfolgt, das war damals ein Novum. Eines, das Norbert Niederkofler noch immer mit großem Stolz erfüllt.
Mit der Zeit – „Cook the Mountain“ wird bereits seit über einem Jahrzehnt praktiziert – hat sein Team eine bemerkenswerte Expertise aufgebaut, was die Versorgung mit Zutaten aus den nahen Bergen betrifft. Ohne akribisch geführte Datenbanken – „jede:r, der/die etwas aus dem Vorrat nimmt, muss es austragen“ – und lange Vorausplanung geht es nicht; bei Gastrogroßhändler:innen anzurufen, wenn fermentierte Lärchenzapfen und getrockneter Baumbart fehlen, ist schließlich keine Option. Die Beschaffung von Zutaten habe sich seit den Anfängen schon deutlich vereinfacht, sagt Niederkofler, „weil viele Produzent:innen dazugekommen sind, beziehungsweise weil neue Produzent:innen auf uns zukommen statt nur wir auf sie, weil das Ganze heute einen Namen hat.“ Anfangs, erinnert er sich, habe er sich im Sommer gedacht, „super, super, super, wir haben eh so viel!“. Die ersten Winter aber waren ernüchternd – „oh, und jetzt?“. Mittlerweile werden die Menüs mit seinem Team ungewöhnlich lange im Voraus erarbeitet, man entwickelt gemeinsam mit Bauern und Bäuerinnen Anbaupläne für die kommende Saison, und es wird nach wiederentdeckten Methoden eingeweckt, fermentiert, getrocknet, eingesalzen oder anderswie haltbar gemacht. Dass dabei auch überraschende neue Produkte entstehen können, gehört zu den spannenden Seiten dieser Art zu arbeiten: Man entdeckte etwa, dass fermentierte Pflaumen nach Monaten ein umami-dichtes Ketchup ergeben.
In den Bergen, wo schwierigere Witterungsbedingungen herrschen, ist ein streng regionales Konzept noch einmal kniffliger als in einer jederzeit fruchtbaren Gegend. „Es ist alles sehr komplex“, sagt Niederkofler. „Du musst mit verschiedenen Höhen arbeiten, mit verschiedenen Talschaften. Wenn du alles von einer Höhe beziehst, hast du auf einmal so viel Ware, dass du nicht mehr nachkommst mit dem Verarbeiten. Deshalb brauchen wir früh reifende Sachen und solche, die später daherkommen, damit man den Sommer noch in den Herbst hineinziehen kann. Oder, wenn du alles aus einem Tal beziehst und dort fällt Hagel – dann hast du gar nichts mehr. Man muss sich also so breit wie möglich aufstellen.“ Auch, was die Biodiversität betrifft: „Du brauchst allein deshalb unterschiedliche Karottensorten, damit du eine möglichst lange Zeit damit auskommst. Eine Frühkarotte, eine Sommerkarotte, eine Herbstkarotte und eine, die man im Keller bis März lagern kann, bis dann irgendwann wieder frisches Gemüse nachkommt.“
Die Abläufe sitzen teamintern heute naturgemäß sicherer als zu Beginn. Wann man mit welchen Zutaten in welchen Mengen rechnen kann, wie man sie haltbar machen kann. Dass letzteres allein mit althergebrachten, rural-romantischen Techniken geschieht, wäre übrigens gelogen – ein wichtiger Freund ist der Tiefkühlbereich, in dem man zum Beispiel im Winter weiße Johannisbeeren ernten kann (austragen nicht vergessen!). Die kücheninternen Datenbanken helfen auch bei der Eventplanung – jedes Event bedeutet gleichsam einen außertourlichen Zutatenschwund. „Wenn wir im Sommer eine Anfrage für November bekommen, müssen wir erst einmal schauen, was haben wir überhaupt in welcher Menge da? Wie viele eingerexte Pfifferlinge, wie viele Gläser Kornelkirschen? Dann sagen wir, okay, wir brauchen für dieses Event drei Kilo Kornelkirschen, dann werden die ausgetragen und reserviert.“
Was Norbert Niederkofler immer schon wichtig war, für sich selbst wie für sein junges Küchenteam: Reisen und dabei Ideen für die eigene Küche importieren, realisiert freilich aus lokalen Zutaten. Nicht wegzudenken etwa die Würzsauce aus Berglinsen, für die Sojasauce Pate gestanden war. Eine Barbecue-Sauce ohne Ketchup und ohne Alkohol. Taramasalata aus dem Rogen von Zander und Saibling. Katsuobushi, getrocknete Fischflocken, aber aus heimischer Lachsforelle statt japanischem Thunfisch. Oder schwarze Nachos, aus Polenta und Kohle gemacht, die mit Kaninchennieren und Sauerklee getoppt als Drei-Sterne-Bergtapas serviert werden.
Apropos Latinoküche: Der Südtiroler tauscht sich gern mit Spitzenköch:innen anderer Gebirgsregionen aus, wie dem Peruaner Virgilio Martínez Véliz, einem jener Köch:innen, die schon bei Niederkoflers Symposiumreihe „CARE’s – The ethical Chef Days“ zu Gast waren. Diese Veranstaltung hat die Vision, „Sorge zu tragen. Für unsere Umwelt und Natur, für die Region, für die Kultur in all ihren Formen“ und ist Teil der Beratungsfirma Mo-Food, die Niederkofler gemeinsam mit Paolo Ferretti führt und die auch hinter seinem Restaurant AlpiNN steckt, dem „Food Space & Restaurant am Kronplatz“.
„Die scheinbare Einschränkung sollte sich freilich als ungeahnt starker Kreativitäts- und Recherchemotor herausstellen: Wenn Ingredienzien allein aus Gründen des Herkunftsradius nicht mehr erlaubt sind, muss man Ersatz finden – und gleichzeitig in die Tiefe gehen, die Biodiversität ausnützen.”
Im ersten Jahr von CARE’s, 2016, war noch das Hotel Rosa Alpina, wo alles begonnen hatte, Hauptquartier der Veranstaltung. Nun ist es das Atelier Moessmer in Bruneck, Norbert Niederkoflers neue Spielwiese: Das Hotel Rosa Alpina und das Restaurant St. Hubertus werden derzeit umgebaut. Niederkofler hat sich nach der Schließung für die Umbauarbeiten im März 2023 entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen. Die traditionsreiche Tuchfabrik Moessmer hat ihn dabei unterstützt und ihm in einer um einen Glaspavillon erweiterten denkmalgeschützten Villa auf dem Firmenareal ein Restaurant gebaut. Die drei Michelin-Sterne wurden Niederkofler und seinem Team unter Küchenchef Mauro Siega auch im Atelier Moessmer wieder verliehen. Einen weiteren Stern gab es für sein ebenfalls junges Lokal Horto in Mailand mit Alberto Toè als Küchenchef, wo nur Zutaten aus einem Umkreis von eineinhalb Autostunden verarbeitet werden.
Nachdem sich Norbert Niederkofler nicht vierteilen kann, ist es umso wichtiger, dass er sich auf seine Teams verlassen kann. Diese in den Vordergrund zu rücken und jungen Leuten Lust auf Gastronomie zu machen, ist heute eines seiner Hauptanliegen, wie er in Interviews nicht müde wird zu betonen. Jahrelang war Michele Lazzarini als Souschef an seiner Seite, er kam zum rechten Zeitpunkt, als „Cook the Mountain“ noch in den Kinderschuhen steckte, und trieb deren Entwicklung maßgeblich voran. Lazzarini hat mittlerweile sein eigenes Lokal, in dem er dieselben Prinzipien verfolgt, das Contrada Bricconi in der Provinz Bergamo. Ohne seinen Küchenchef sowie seinen Restaurantleiter und Chefsommelier im Atelier Moessmer – „beide sind komplett in alle Businesspläne eingebunden“ – lässt sich Niederkofler ungern fotografieren: Mauro Siega und Lukas Gerges sollen bitteschön immer an seiner Seite abgelichtet werden, und auch Alberto Toè im Horto Restaurant Milano soll ordentlich Sichtbarkeit bekommen. „Die Jungen verdienen, dass man ihre Gesichter zeigt“, sagt Niederkofler, Jahrgang 1961. „Das ist eine Art, junge Leute zu halten. Gastronomie ist Teamsport, das muss man ganz klar sagen. Mir bricht da kein Zacken aus der Krone.“
Bei Niederkofler kommt zur Relevanz des Küchen- und des Serviceteams ein weiteres, äußerst wichtiges loses Team dazu: die Produzent:innen, Wildpflanzensammler:innen, Wissensvermittler:innen, ob es nun der Gemüsebauer Harald Gasser oder die Ethnobotanikerin Valeria Margherita Mosca ist. Ihnen widmet auch das Opus Magnum „Cook the Mountain“, Niederkoflers jüngstes Kochbuch, viel Raum, Bild und Wort.
Missionen für seine Zukunft, abgesehen von der Nachwuchsförderung und dem Sichtbarmachen aller Zuständigen, hätte dieser Koch genug. Krankenhausküche zu verbessern. Ernährungslehre, Einkaufsethik und Zero-Waste im Schulsystem zu verankern – „eigentlich müssten wir schon in die Kindergärten rein“. Und: „Man muss Convenience-Produkte in Zukunft anders denken, Convenience ist die Zukunft, für wahrscheinlich sechzig, siebzig, achtzig Prozent der Menschen. Nur, wie kann man die anders denken?“
„Gastronomie ist Teamsport,
das muss man ganz klar sagen.
Mir bricht da keinZacken
aus der Krone.”