Das kulinarische Ich 
von Kristian Baumann
Das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koan in Kopenhagen lotet Identitätsfragen in Form eines Menüs samt Getränkebegleitung aus. Im Interview mit Maison Ë erzählt der in Korea geborene Chef Kristian Baumann, wie er mit einer Küche zwischen jenen zwei Kulturen, die sein Ich ausmachen, erfolgreich ist.
(Fine Dining) Kristian Baumann musste erwachsen werden, um das erste Mal zu erleben, wie es sich anfühlt, auszusehen wie alle anderen. Es war ein prägender Moment im U-Bahn-Gedränge von Seoul während seiner ersten Koreareise – Baumann war damals in seinen Zwanzigern und schon Sternekoch. Dieses Erlebnis sollte die Verbindung des Dänen zu seinem Geburtsland Korea intensivieren und seine kreative Herangehensweise maßgeblich beeinflussen. Sein heutiges Restaurant Koan im Hafengebiet von Kopenhagen ist ein mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneter Solitär, in dem die beiden Kulturen, die in Baumann wohnen, auf aufregende Art verflochten werden. Das kleinteilige Menü im Koan enthält Gänge wie eine blütendekorierte Tartelette mit Eichelgelee und fermentierten grünen Erdbeeren – das Gelee aus Eichelstärke ist im waldreichen Korea unter dem Namen dotori-muk als gut zu transportierende Proteinquelle beliebt, die grünen Erdbeeren sind eine „New Nordic“-Zutat par excellence. Bemerkenswert ist, wie spät der Koch seine koreanische Seite auszuleben begann.
Kristian Baumann wuchs damit auf, anders zu sein. Lange Zeit waren er und seine ebenfalls aus Korea adoptierte Schwester die einzigen, die in seinem Heimatort außerhalb Kopenhagens optisch völlig aus der Reihe fielen. „Erst später zog eine indische Familie in die Nähe“, wie er sagt. Seine leiblichen Eltern waren kein Paar, in Korea galt das damals gesellschaftlich als unmöglich, erzählt Baumann. Die ersten vier Lebensmonate verbrachte er zwischen seiner leiblichen Mutter – er bezeichnet sie als „erste Mutter“ –, Pflegefamilien und einem Waisenhaus. Aus diesem wurde der kleine Junge nach Dänemark geholt und von seinen Adoptiveltern Kristian Baumann genannt – seine koreanischen Namen trug er fortan als Mittelnamen. Adoptionen koreanischer Kinder waren in Dänemark damals üblich – mit allen negativen Begleiterscheinungen, wie Baumann anmerkt. Sprich: Korruption, Dokumentenfälschung, Kindesentführung, Kinderhandel. Seit 2024 lässt Dänemark übrigens keine Auslandsadoptionen mehr zu.
Ein guter Start
„Meine erste Mutter hat mich immer wieder abgeholt, immer wieder versucht, es doch möglich zu machen, mich großzuziehen. Als mein Sohn geboren wurde, habe ich ihn in ruhigen Stunden oft betrachtet und darüber nachgedacht, was wohl in ihr vorgegangen sein mag, wie sehr sie hin- und hergerissen gewesen sein musste zwischen der Frage, was aus ihrem und meinem Leben werden sollte.“ Auf einer Koreareise hinterließ der erwachsene Kristian Baumann im Waisenhaus ein selbstgestaltetes Buch mit Fotos aus seiner Kindheit und Jugend für seine leibliche Mutter. „Falls sie mich jemals suchen sollte. Sie soll wissen, was aus mir geworden ist und dass ich einen guten Start ins Leben hatte.“
Baumanns Kindheit war geprägt von zwei Geschwistern – einer älteren Schwester aus Korea und, etwas später und unerwartet, dem leiblichen Sohn seiner Adoptiveltern – sowie von einem Garten, eigenen Hühnern und einem Aushilfsjob als Erdbeerpflücker. „Das war viel besser, als Zeitungen auszutragen. Ich aß während der Arbeit so viele Erdbeeren, wie ich nur konnte, und Geld gab es obendrein.“ Er war sehr sportlich, versuchte sich in den unterschiedlichsten Disziplinen, realisierte aber irgendwann, dass er zwar in allem möglichen gut war, aber in keiner Sportart der Beste sein würde. „Und ich bin ein sehr schlechter Verlierer. Eigentlich ist es gut, so etwas über sich selbst zu wissen. Einmal nahm ich an einem Kochwettbewerb teil, habe nicht gewonnen und sofort beschlossen: Nie wieder!“, erinnert sich Kristian Baumann.
Als Schüler entschied er sich dann für ein dänisches Internat ohne besondere Spezialisierung, „mit einer Ausnahme: Disziplin. Es war keine Militärschule, aber wenn es zehn Uhr hieß, bedeutete das zehn Uhr und keine Sekunde später“. Unter den Fächern gab es auch Kochen. Während die meisten Mitschüler:innen das Fach als lästige Pflicht empfanden, fand Baumann Gefallen daran. Es folgte die Ausbildung an einer Kochschule und Auslandspraktika unter anderem in Italien und den Niederlanden. 2005 bekam er seinen Fuß in ein Restaurant, das sich zu einer der einflussreichsten Adressen der kulinarischen Welt entwickeln sollte – dem Noma in Kopenhagen. Bekannt unter anderem dafür, lokale, wildwachsende Zutaten und traditionelle Methoden des Haltbarmachens wieder „sexy“ zu machen. Weitere Stationen seiner Laufbahn, „um es kurz zu machen“, wie Baumann es im Interview mit Maison Ë wiederholt betont, waren das Relæ und das Manfred’s von Christian Puglisi, einem Koch, der ihn nachhaltig prägte. „Schon damals stellte ich mir immer öfter die Frage: Wer bin ich eigentlich? Und wie kann ich das, was ich bin, auf dem Teller ausdrücken? Denn dass etwas anderes in mir wohnte, erkannte ich jedes Mal, wenn ich in den Spiegel blickte.“ Baumann entwickelte erste Vorstellungen davon, wie eine Küche aussehen könnte, die ihn, den in Korea Geborenen, widerspiegelt. Doch Dänemark war kulinarisch – abgesehen von der New Nordic Cuisine – stark französisch und italienisch geprägt. „Die Zeit war noch nicht reif.“
Zurück zum Ursprung
Gemeinsam mit Noma-Chef René Redzepi eröffnete Kristian Baumann im Jahr 2016 das 108, das gerne als „Kleine Schwester des Noma“ bezeichnet wurde. „Das 108 war überhaupt nicht als Sternerestaurant geplant. Aber wir bekamen sechseinhalb Monate nach der Eröffnung einen Michelinstern.“ Danach beschloss Baumann, endlich nach Korea zu fliegen. „Ich wollte dem Land, in dem ich geboren wurde, näherkommen – viele Adoptierte tun das übrigens nie. Und lange Zeit hatte ich gar nicht die finanziellen Mittel dafür.“ Seine erste Reise unternahm er allein, lediglich mit ein paar Kontakten im Gepäck, die ihm Gastronomie, Leute, Märkten und von nächtlichem Streetfood bis zu Tempelküchen alles zeigten. „Es war eine unglaublich bewegende Zeit“, erzählt er. „Ich hatte mein angelesenes Vorwissen über die koreanische Küche und ich hatte meine westliche Kochausbildung – und dann endlich die Möglichkeit, beides vor Ort zusammenzufügen … beziehungsweise zu lernen, dass die Kochkunst in Korea ganz anders aufgebaut ist, als wir das von Frankreich oder anderswo gewöhnt sind. Für einen Koch ist das wirklich aufregend.“
Allein die Bedeutung der Jangs, der fermentierten Pasten und Saucen, oder die Tempelküche, die sich grundlegend von dem unterscheidet, was im Westen oft als ‚koreanisch‘ verstanden wird – Stichwort Korean Fried Chicken, scharf, heiß, viel Knoblauch, Fleisch. „Die Tempelküche ist vegetarisch, Zwiebelgewächse sind beispielsweise nicht erlaubt, weil man ihnen schlechte Energie attestiert.“
Energiearbeit
Apropos schlechte Energie: Als Kristian Baumann im Februar 2020 heiratete – „am 2.2.2020“ –, war ein Virus aus China das Tischgespräch Nummer 1. Noch im September dieses Jahres musste er das Restaurant 108 schließen, die Corona-Pandemie hatte einen Weiterbestand unmöglich gemacht. Just in dieser globalen Krise, in der vermeintlich alle Zeichen gegen die Gastronomie standen, erwachte seine Idee für das Koan zum Leben: In einem kurzen Lockdown-freien Zeitfenster eröffnete er sein erstes Pop-up, in welchem er seine Vision einer Küche präsentierte, in der er die Geschmäcker von Korea und Dänemark miteinander verschmelzen ließ. Den Namen dafür trug er bereits zehn Jahre lang im Kopf mit sich herum, sagt er heute. Koan ist im Zen-Buddhismus eine Art rätselhafte Frage mit offenem Ausgang. 
Eigene Wege gehen
Das heutige Koan, unweit der berühmten Meerjungfrau von Kopenhagen gelegen, eröffnete Kristian Baumann schließlich im Frühling 2023. „Wir lagen 450 Prozent über dem Budget“, erinnert er sich. In den schmalen, aber hohen Räumlichkeiten eines langgestreckten Pier-Gebäudes war zuvor schon ein Restaurant untergebracht – „schrecklich eingerichtet“, wie er findet. Mit finanzieller Beteiligung von Familie und Freunden – „wir haben keinen superreichen Investor“, anders als andere Restaurants in Kopenhagen – hatte er das Interieur nach seinen Vorstellungen planen lassen. Hell, linear, mit einer offenen Küche und raumhohen Schranktüren aus Eschenholz und Reispapier. Ein Lokal, das koreanische und dänische Einflüsse in der Ästhetik genauso vereint, wie es auch seine Küche tut. Kurz nach der Eröffnung folgte die Einladung zur skandinavischen Michelin-Gala. „Die Ein-Sterne-Restaurants waren abgehakt, die Grünen Sterne waren abgehakt, das Koan wurde nicht erwähnt. Dann kam die Ankündigung, dass Dänemark einen neuen Zweisterner hat, und unser Name erschien auf der Leinwand.“ Das Ganze erfolgte gerade einmal zehn Wochen nach dem Start des Koan. Das Ergebnis: Stolz, Erleichterung und endlose Freude – „damit war mir klar: Wir können unseren Weg weitergehen, ohne Mittagessen und ohne zwei Seatings am Abend.“
Die koreanische Tempelküche ist 
ein Universum für sich.
Schon die ersten Happen im Koan geben die Marschrichtung vor. In einer typisch koreanischen Messingschale liegen etwa ein in Rosenblätter gewickelter roher norwegischer Shrimp mit roten Datteln und karamellisierten Algen, eine winzige Melothria-Gurke mit frittierten koreanischen Anchovis und Basilikumblüten sowie eine gegrillte-Kimchi-Pflaume. Geradezu atemberaubend gut: eine Art Praline aus hausgemachtem Seidentofu mit Pinienkern-Intarsien, Langustine, Senfkörnern und hocharomatischen getrockneten Erdbeeren, die in Kaviar des dänischen Produzenten Gastrounika gerollt wird. Ein völlig neuartiges Gericht, das sich aus verschiedenen Esskulturen nährt. Für eine geschnitzte Kohlrabirose mit weißem Rettich-Kimchi-Granita, einen von Tempelküche inspirierten Gang, suchte Kristian Baumann in Korea das richtige Geschirr – und fand Schalen aus chinesischen Scherben der Ming-Dynastie und einem aufmontierten neuen Porzellanteil. Der Name dieser Serie eines koreanischen Künstlers: Reborn. Es war wieder einer dieser Gänsehaut-Momente, als er den Namen erfuhr, und Baumann der Händlerin gleich von seiner Geschichte und seiner aktuellen Mission erzählte. Für Keramik hegt er wie viele Köch:innen eine besondere Vorliebe. Bei einem der Hauptgänge – einer Reisschale mit einer Vielzahl an Banchan, den typischen koreanischen eingelegten Gemüsebeilagen – musste er sich sogar selbst zurückhalten. „Normalerweise serviert man die einzeln in lauter kleinen Schälchen, aber das würde bei uns den Rahmen sprengen“, erzählt Baumann und muss lachen – es sind im Koan pro Person nicht weniger als elf Banchan, von weißem Johannisbeer-Kimchi über Gurke mit schwarzem Knoblauch bis hin zu Magnolie mit gelben Tomaten. „Also ordnen wir sie auf einem quadratischen Teller an, dazu reichen wir die entsprechende Beschriftung in einem Reispapierumschlag.“ Zu trinken gibt es im Koan nicht nur Champagner, deutschen Riesling oder Burgunder, sondern auch Soju-Cocktails, kalten Grüntee in winzigen Bechern und koreanischen Reiswein made in Denmark: gebraut von der Yunguna Brewery aus nichts als Wasser, Reis und einer speziellen Hefe: Nuruk.
In seinem Leben gab es zwei Restaurantbesuche, die für ihn alles verändert haben, sagt Kristian Baumann: „Das eine war das El Bulli von Ferran Adrià, das andere war der Jingwansa-Tempel 45 Minuten außerhalb Seouls. Das Mittagessen dort hat alles über den Haufen geworfen, was ich bisher über Essen wusste. Es war so geschmackreich, so nährend, so befriedigend. Und das, obwohl es vegan war – und ich bin Karnivore –, ohne Zwiebel, ohne Knoblauch. Jeder Gang so einfach und gleichzeitig so unfassbar vielschichtig. Es gab frittierten Tofu, aber den absolut perfekten frittierten Tofu. Ein wild gepflücktes Shisoblatt und Dongchimi, kühlendes Rettich-Wasserkimchi.“ Seit diesem Erlebnis besucht Kristian Baumann auf seinen Reisen nach Korea so viele Tempel wie möglich. Auch mit Jeong Kwan, der durch die Netflix-Serie „Chef’s Table“ bekannten buddhistischen Nonne, konnte er Zeit verbringen. „Allein ihr Vorratsschrank! Da gibt es drei Monate alte Sojasaucen, drei Jahre alte, 25 Jahre alte – und alles dazwischen. Dann: Kaki-Essig, Mandarinenessig und so weiter. Als ich sie nach dem Rezept für einen Essig fragte – und als Koch erwartet man ja immer ganz genaue Angaben – sagte sie: Sonne, Luft, Wind. Jedes Nachfragen war sinnlos, es kam immer nur diese Antwort: Sonne, Luft, Wind.“ Baumann kostete getrocknete Scheiben einer Mandarine von einem 500 Jahre alten Baum, was wieder ein Erweckungserlebnis war und ihm das Potenzial des Trocknens von Zitrusfrüchten vor Augen führte – „diese unerwartete Frische von karamellisierten Zitrusfrüchten … Ich wusste gleich: Das will ich in meinem Restaurant verwenden.“ Genau diese getrockneten Zitrusfrüchte waren dann auch Teil des ersten Reisgerichts, das Baumann bei der Eröffnung im Koan servierte; dies war ihm wichtig. „Diese Zutat war ein Verweis auf meine Emotionen.“ Es ist ein Symbol für Kristian Baumanns spät entdeckte, aber so enge Verbundenheit zur koreanischen Tempelküche.