Acquired Taste Teil 1
Italiens Liebe
zu Bitter
Während andere Länder es möglichst süß oder salzig mögen, frönt Italien seiner Lust auf alles Bittere. Von Radicchio zu Chinotto, von Cime di Rapa zu Zitrusfrüchen – warum bitter oft die besten Geschichten erzählt.
Im Gespräch mit Antonia Klugmann
(Bitter) Von wegen Dolce Vita: Wie kaum ein anderes Land gilt Italien als Bitterparadies. Vieles, was die Küche zwischen Südtirol und Sizilien, zwischen Bergamo und Ragusa ausmacht, beruht auf jener Geschmacksrichtung, die im Gegensatz zu salzig, umami oder süß als eher schwierig gilt. Woher kommt diese Liebe? Und was können wir von ihr lernen?
Die Reise beginnt
Ein Teller, so schlicht wie überzeugend: In Romana-Salat-Extrakt sautierte Fusilli, gebettet auf Muschel-Lupinenragout, dazu Weinrautenblätter, Austern und Römersalat. Das Bittere verführt auf zweifache Art: durch die Pastasauce und Weinraute, ein in Vergessenheit geratenes Raukegewächs, das bereits von den Alten Römern für seine heilenden Eigenschaften geschätzt wurde.
„Bittere Aromen sind ein essenzieller Teil meines Kochens, weil sie zeigen, wie sich die Natur mit den Jahreszeiten verändert“, erklärt Antonia Klugmann, die Schöpferin dieses Tellers. „Vor allem in meiner Heimatregion Friaul-Venezien machen sie oft die Schlüsselkomponenten eines Gerichts aus.“ Klugmanns 2014 eröffnetes Restaurant L’Argine a Vencó wurde mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Ein eingeschossiger, glasdominierter Bau, dreißig Kilometer östlich von Udine und nur einen Steinwurf von der slowenischen Grenze entfernt. Gemüse- und Kräuterraritäten spielen dort eine wichtige Rolle, vieles davon aus dem eigenen Garten oder von Landwirt:innen der Region – und immer wieder bittere Aromen. „Ich denke an Radicchio in Kombination mit Schweinefleisch und einem Spritzer Säure, an mit Frischkäse verfeinerten Salat oder die vielen lokalen Käsespezialitäten. Und was könnte die italienische Küche besser repräsentieren als ein Brot mit Tomaten und Ripassata-Zichorie?“
In ihrem Tasting Menu kombiniert die 1979 in Triest geborene Köchin Cannelloni mit Brennnessel und Zichorie oder gerösteten weißen Spargel mit Thymian, Pflaumenravioli und formaggio di fossa. Darüber hinaus hat die scheue Frau mit den blonden Haaren und espressobraunen Augen eine Vorliebe für Auberginen, entweder gegrillt oder frittiert und dann kalt serviert mit dem weißen, eher bitter als sauer schmeckenden Teil der Zitrone. „Mein Ziel ist es, einen anderen, hoffentlich originellen Zugang zu bitter zu schaffen, einem komplexen, erwachsenen Geschmack. Eine Köchin gelangt dort an einem ganz bestimmten Punkt ihrer persönlichen Reise an.“
Das scheint nicht nur fürs Kochen, sondern auch fürs Essen zu gelten. Von allen fünf Geschmacksrichtungen ist bitter die möglicherweise unbeliebteste, eine, an die man sich herantasten muss. In ähnlichem Maß, wie sie Süßes lieben, hassen die meisten Kinder Brokkoli & Co – kein Zufall, schließlich lassen Bitterstoffe häufig auf Ungenießbares schließen. Antonia Klugmann hat recht, wenn sie von einem erwachsenen Geschmack spricht, mit fortschreitendem Alter kommt die Lust darauf oft von allein. Wünschenswert ist dies deshalb, weil die in bitteren Speisen enthaltenen Polyphenole antioxidativ, immunsystemstärkend und verdauungsfördernd wirken.
“Von allen fünf Grundgeschmäckern ist Bitter vielleicht der unbeliebteste –
ein Geschmack, an den man sich erst gewöhnen muss.”
Bittere Geschichten
Daniel Canzian zufolge ist das kein Zufall. „Das hat mit unserer Geschichte zu tun, der Notwendigkeit, alles Naturgegebene zu verwenden. Bitter ist kein einfacher Geschmack, dafür ein nachhaltiger. Wir Italiener:innen lieben mannigfaltige, vielschichtige Geschmacksnoten – und bittere erzählen oft die besten Geschichten.“ Etwa jene aus seiner Kindheit, von sonntäglichen Mittagessen mit Radicchio aus dem elterlichen Garten oder jenen Kräutern, mit denen seine Großmutter ihre Suppen würzte.
Canzians nach ihm benanntes Restaurant befindet sich in Mailand, ein heller, luftiger Raum, mit poppigen Kochskizzen an der Wand und einer historischen Nähmaschine als Blickfang. Sobald das Thema auf jenen Geschmackssinn kommt, mit dem viele sich schwertun, gerät der Präsident der Jeunes Restaurateurs ins Schwärmen. „Ich verbinde damit Authentizität und Natur, alles, was echt ist. In der Küche meiner Heimat werden bittere Aromen niemals versteckt, sondern umarmt, weil sie einem Gericht Tiefe, Wahrheit und Nuancen verleihen.“
Das gilt auch für sein Signature Dish, ein Zitronenrisotto mit Balsamico-glaciertem Radicchio und Lakritz. Entstanden ist es 2013, ausgehend von der Frage, wie sich rustikaler Bratensaft auf Fine-dining-Niveau heben lässt. „Das Risotto ist die Leinwand, auf der Säure und Bitterkeit zu verführerischer Balance finden. Ein Gericht, das meine Idee von italienischer Küche ausdrückt – geerdet, ehrlich, klar in der Ausführung.“ Die Kreation ist derart beliebt, dass Canzian sie in seinem Onlineshop zum Nachkochen verkauft.
Amaro auf dem Teller
Wäre es möglich, fragte sich Gianluca Gorini, das Amaro-Prinzip vom Glas auf den Teller zu transportieren? Ja, und zwar in Form von Spaghetti in einer mit Enzian aromatisierten Butter, flankiert von kandierter Bergamottenschale, getoppt mit Pecorino, der in gereifter Form eine subtile Bitterkeit mitbringt.
„Für mich ist die Kombination von Pasta, Käse, Zitrus- und Bitternoten die Essenz der italienischen Küche“, verrät der in den Marken geborene Koch, der jünger wirkt als 42 Jahre. „Der Enzian wächst im Appenin-Gebirge, die Bergamotte in Kalabrien, beide verleihen dem Amaro seinen typischen Geschmack.“ Gorinis mit einem Michelin-Stern ausgezeichnetes Restaurant befindet sich in der Provinz Forlì-Cesena zwischen Bologna und Florenz, unweit des Nationalparks Foreste Casentinesi. Wie Antonia Klugmann und Daniel Canzian attestiert auch er seinen Landsleuten einen Hang zum Bitteren. Neben Gemüse nennt er Bier, die toskanische Bauernsuppe ribollita und das stark gegrillte bis leicht verbrannte bistecca alla fiorentina als Beispiele. „Eines der meiner Meinung nach gelungensten Gerichte in meinem Restaurant Da Gorini ist eine mit schwarzem Pesto servierte Artischocke vom Holzkohlegrill, deren äußere Blätter regelrecht verbrannt sein müssen. Davon abgesehen liebe ich Zitrusfrüchte, vor allem Bergamotten.“
Auch für die ist Italien bekannt. Zum Beispiel für die hauptsächlich in Ligurien kultivierte Chinotto, eine Unterform der Bitterorange und zugleich Namensgeberin einer Bitterlimonade, die auch im Ausland viele Fans hat. Oder die Cedro, auch Zitronatzitrone genannt, deren essbare Schale sich perfekt für ein Carpaccio eignet. Die Gegend rund um den Ätna hingegen gilt als Orangenparadies – mit Weltklassesorten wie Tarocco, Moro und Navel. Vergangenen Winter hatte Gorini ein mit Orangenbrühe angesetztes Wildragout-Risotto auf der Karte, verfeinert mit Orangenpaste und Muskatnuss, getoppt von gebratener Wildente. Als Dessert röstete er eine Zitrone wie ein Stück Fleisch in Butter an und servierte sie mit Kaffeesauce und Apfelpüree. „Hier kam das Bittere vom Kaffee. Sie finden, der vertrage sich nicht mit Zitrusnoten? Denken Sie nur mal an mit Espresso übergossenes sizilianisches Zitronengranita!“
Noch ein typischer Gorini-Teller: ein mit Fenchelbrühe angesetztes Risotto mit Zitronenpaste und Kamillensauce, deren Duft der Sternekoch mit begrünten Bergen und Frühling verbindet.
“Wir Italiener:innen lieben mannigfaltige,
vielschichtige Geschmacksnoten –
und bittere erzählen oft die besten Geschichten.”
Gemüse mit dem gewissen bitter
Während hierzulande Bitterstoffe aus Gemüsesorten herausgezüchtet wurden, schützt Italien diesbezüglich sein Erbe. Die Rosa di Gorizia, zu Deutsch Rose von Görz, ist in ihrer Heimat, dem norditalienischen, an Slowenien grenzenden Friaul, so begehrt, dass sogar Fälschungen kursieren. Nur noch eine Handvoll Produzenten widmet sich dieser Radicchiospielart, deren Farbgebung von Rosa zu Scharlachrot reicht. Gesät wird sie im Frühjahr, geerntet im Herbst. Klassisch isst man sie roh, zusammen mit Borlottibohnen, Bauchspeck beziehungsweise gehacktem hartem Ei oder aber als Strudel.
Auch Spargel weist erkennbare Bitternoten auf. Kultiviert wird er in Italien seit dem 17. Jahrhundert und wurde dort, anders als etwa in Frankreich oder Spanien, immer schon als vollwertiges Gericht statt als bloße Beilage geschätzt.
In die Irre führt der Beiname Vulkanspargel, schließlich gehört Puntarelle zum Chicorée. Bereits die Alten Römer wussten deren magenberuhigende und zugleich appetitanregende Wirkung zu schätzen.
Der italienische Kochbuchautor Claudio del Principe bereitet damit seinen liebsten Wintersalat zu, puntarelle alla romana, und liefert gleich noch die entsprechende Warenkunde mit: „Bitte, bleibt beim Namen Catalogna, wenn es um den ganzen Kopf geht. Diese bitterschöne Blattzichorie mit den löwenzahnartigen Blättern wird von Food Hipstern immer öfter Puntarelle genannt. Aber Puntarelle nennt man nur die inneren Triebe der Catalogna.“
Der Kohl der Italiener
Dann wäre da noch Italiens wunderbare Kohlvielfalt: vom vor allem in der Toskana angebauten Palmkohl über Wirsing bis hin zu Cime di Rapa, den man in Apulien mit Chili, Sardellenfilets und Orecchiette kombiniert. „Brokkoli der Brokkoliliebhaber“ nennt die Autorin Niki Segnit diesen Stängelkohl in ihrem Grundlagenwerk „Der Geschmacks Thesaurus“: „Manche Leute behaupten, er sei senfartiger und würziger als der gewöhnliche Brokkoli. Ich würde ihm darüber hinaus einen kräftigen Eisengeschmack und einen salzigen Anflug von Lakritze attestieren.“ Häufig wird dieser mit Sardellen und Parmesan kombiniert, weil sich Salz und Bitterkeit gegenseitig emporhelfen, Segnit hingegen empfiehlt Parmesan und die Bratwurstspezialität Salsiccia zu Pasta.
Als wahres Bittergemüsemekka gilt Neapel, für dessen Bewohner:innen manche den abschätzigen Begriff mangiafoglie übrighaben: Blätterfresser:innen. Man könnte auch sagen: Die wissen, was gut ist. Endivien zum Beispiel, mit Knoblauch, Kapern, Pinienkernen und Rosinen in der Pfanne geschmort, oder Friarielli. Vor allem zur herbstlichen Saison findet man diese Kohlvarianz in Neapel an jeder Ecke, auf der Pizza, als Beilage, in Brote gefüllt.
Der österreichische Autor und Neapel-Zweitwohnsitzler Tobias Müller spricht von der „unbestrittenen Königin des Bittergemüses“: „So wichtig ist Friarielli für die neapolitanische Identität, dass es als eine Art Initiationsritus verwendet wird: Wenn einem Kind das bittere Gemüse schmeckt, ist es erwachsen, sagt der Volksmund hier.“ Es ist wohl das, was Antonia Klugmann meint, wenn sie die Liebe zum Bitteren als eine Station auf der ganz persönlichen kulinarischen Reise nennt. Manche erreichen sie früher, andere später, einige Unglückselige vielleicht nie. Hat man das Bittere erst einmal lieben gelernt, gibt es kein Zurück.