Eine lombardische
Familienangelegenheit

Culinary and Pleasure

Das Fischlokal Da Vittorio in Bergamo markierte im Jahr 1966 den Beginn. Heute ist das Gastronomie-Unternehmen der Familie Cerea geradezu ein Imperium: mit sieben Michelin-Sternen, Dependancen in der Schweiz und in China, Prestige-Catering, einem Pastry Lab und mehr. Und noch immer liegt alles in den Händen einer Familie.

Bruna Cerea ist der Boss im Da Vittorio – hier zu sehen mit ihrer Tochter Rossella Cerea, Leiterin des Service.

(Familienbetrieb) Es ist bereits nach Mitternacht, zwei Tische sind noch besetzt, als sie ihre dritte Runde dreht. Den Rücken in einer eleganten blumenüberwucherten Weste kerzengerade, ihrem Blick unter der blonden Kurzhaarfrisur entgeht nichts. Später wird sie noch, so erzählt es ihre Tochter am nächsten Tag, wie immer den Geschäftsgang des Tages, die Kassa, kontrollieren. Bruna Cerea, über achtzig Jahre alt, ist der Boss im Da Vittorio, da sind sich alle einig. Sie hat das Restaurant am 6. April 1966 mit ihrem Mann Vittorio eröffnet. Was heute ein internationales Gastronomie-Imperium mit über tausend Mitarbeiter:innen und sieben Michelin-Sternen ist, hat als Lokal im Zentrum Bergamos begonnen.

Die Ambitionen waren schon damals bemerkenswert: Vittorio Cerea setzte in der Küche nämlich auf Meeresfisch. Und das in den Sechzigerjahren, in einer Zeit, als es für Restaurants im Landesinneren Schwein und Lamm statt Branzino und Scampi hieß. Die Arbeit mit Fleisch ging Cerea zwar leicht von der Hand, er war schließlich ausgebildeter Metzger; in Venedig aber war er mit dem „Meeresgetierfieber“ infiziert worden und im Hafen von Chioggia, einem Hauptumschlagplatz in Italiens Norden, konnte er früh entsprechende Kontakte knüpfen. Diese persönlichen Handelsbeziehungen hielt er auch noch in Bergamo aufrecht, um dem Da Vittorio mit dem Fischfokus das zu verleihen, was man heute USP nennen würde.

Die beiden Söhne, die in Vittorio Cereas Koch-Fußstapfen getreten sind, sehen im Wirken ihrer Eltern ein weiteres Alleinstellungsmerkmal: Sowohl Enrico, der Erstgeborene der fünf Kinder, den alle nur Chicco nennen, als auch Roberto, Bobo gerufen, betonen immer wieder das Interesse der Cereas an außerordentlicher Produktqualität, egal ob es sich um Gemüse, Fisch oder Milchprodukte handelte. „Mein Vater hat mich als Burschen oft zum Einkaufen mitgenommen. Er hat immer gesagt: ‚Chicco, du musst das Beste kaufen. Das ist zwar teurer, aber das ist uns nicht wichtig. Die Leute wollen die beste Qualität.‘ Für uns war die Philosophie der optimalen materia prima immer zentral.“

Die Kinder von Bruna und Vittorio Cerea halfen schon in jungen Jahren im Restaurant mit. „Wir sind so aufgewachsen: zur Schule gehen und arbeiten, zur Schule gehen und arbeiten“, sagt Chicco Cerea. Und noch heute laufen die Fäden des enorm gewachsenen Unternehmens bei den Familienmitgliedern zusammen: Chicco und Bobo prägen die Küche des Dreisterners Da Vittorio und all jener Lokale, die im Laufe der Zeit hinzugekommen sind: etwa das Da Vittorio in St. Moritz, das DaV Mare im noblen Portofino an der ligurischen Küste oder das DaV by Da Vittorio Louis Vuitton in Mailand. Francesco ist sowohl der Chef des Caterings als auch des exzeptionellen Weinkellers des Da Vittorio. Rossella ist Gastgeberin im Da Vittorio und dem dazugehörigen Relais & Châteaux-Hotel Dimora mit seinen zehn Zimmern. Sie prägt die weltweit verschickte Delikatessenlinie ebenso wie die hauseigene Academy, die allen interessierten Mitarbeiter:innen während der Arbeitszeit offen steht. Währenddessen hat Bruna Cerea, die Grande Dame der lombardischen Gastronomie, die auf Schritt und Tritt von ihren zwei Pudeln begleitet wird, auf alles ein Auge gerichtet.

Tutto Famiglia: Bobo, Bruna, Chicco, Rossella und Francesco Cerea.

Wie Zuhause
In Rossella Cereas Augen hat sich im Da Vittorio, dem Herz der Firma, eines seit den Sechzigerjahren nicht verändert: „Das Restaurant ist nicht bloß Arbeitsplatz, es ist unser Zuhause. Wir empfingen damals die Gäste bei uns zu Hause, und wir empfangen sie heute bei uns zu Hause.“

Als das Lokal noch im Zentrum Bergamos zu finden war (der Umzug auf das hollywoodeske Anwesen in Brusaporto, rund dreißig Kilometer außerhalb der mittelalterlichen lombardischen Stadt erfolgte 2005), wohnte die siebenköpfige Familie direkt darüber. Rossellas Aufgabe als Mädchen war es, die Gäste des Da Vittorio in Empfang zu nehmen und sich um ihre Garderobe zu kümmern. Sie erinnert sich gut, wie sie sich während des Abendservice immer zur selben Zeit nach oben stahl, um im Fernsehen ihre Lieblingscomicserie zu sehen, und wie ihre Mutter Bruna sie – beständig wie das Amen im Gebet – wieder nach unten rief – „Lella, wo bleibst du?!“ 

Drei-Sterne-Koch Chicco Cerea in seinem Zuhause: der Küche.

Chicco wiederum schlief als Teenager nicht nur einmal in der Schule ein, den Kopf auf den Armen abgelegt. „Ich kam teilweise erst weit nach Mitternacht ins Bett, weil in der Küche noch so viel zu tun war.“ Leicht war es für ihn in seiner Jugend nicht immer, auf Fußball, Abhängen mit seinen Freunden und Partys zu verzichten, um im Familienbetrieb seine Rolle zu übernehmen. Das hohe Arbeitspensum hat ihm jedoch schon früh einen Startvorteil verpasst, meint der heutige Drei-Sterne-Koch, der sich um so viel mehr als um das Flaggschiff in Brusaporto kümmert und dessen Handy pausenlos klingelt: „Meine Woche hat sozusagen neun Tage. Ich habe überhaupt kein Problem mit viel Arbeit. Dieser Grundstein wurde schon in meiner Kindheit gelegt, mein Vater hat mich gut trainiert.“

Bobo weiß noch genau, wie sein Vater Vittorio immer zur Kirche kam, neben der er mit seinen Freunden Fußball spielte, um ihn ins Restaurant zu holen, weil seine Arbeitskraft benötigt wurde. „Mit acht, neun Jahren war ich einer der Tellerwäscher. Ich habe noch ganz genau einen Mitarbeiter aus Süditalien vor Augen – er war quasi mein Boss beim Abwaschen –, der so winzig war, dass er auf einem Hocker stehen musste.“

Nach und nach kamen einfache Hilfskochaufgaben wie Zwiebelschneiden, Champignonputzen und Kartoffelschälen hinzu. Warum sein Vater seinem Bruder Chicco und ihm, Bobo, einen Platz in der Küche zugeteilt hat, während Francescos Bestimmungsort der Gastraum war, habe übrigens mit der Statur der Jungen zu tun gehabt: „Chicco und ich waren dicker. Francesco, der Zweitälteste, war dünner und wendiger, also kam er in den Service.“ Darüber muss Bobo Cerea noch heute lachen. Als er älter wurde, entwickelte er immer mehr Interesse am Kochen – an der Verfeinerung. „Mit fünfzehn, sechzehn Jahren erfand ich erste Gerichte. Ich genoss die konspirative Atmosphäre in der Küche und war froh, Teil des Teams sein zu dürfen“, erzählt Bobo.

Die Küche wurde zu seinem Lebensraum, und genauso war es bei Chicco. Nach ihren Schulabschlüssen begannen die beiden Brüder mit Praktika im Ausland. Es zog sie nach Frankreich, Deutschland, Spanien, Indonesien und in die USA, wo sie in Sternerestaurants neue Techniken, neue Zutaten, neue kreative Herangehensweisen lernten – ob bei den Brüdern Troisgros, bei Heinz Winkler im Münchner Tantris oder Ferran Adrià im elBulli. „Natürlich gab es auch negative Erfahrungen“, berichtet Chicco Cerea. „Aber ich bin mit einer ausgesprochen starken Neugier gesegnet. Die hat mir geholfen, von überall etwas Positives, weil Neues mitzunehmen.“ Bobo Cerea erachtet vor allem seine Zeit in französischen Drei-Sterne-Restaurants als besonders prägend. „In den Neunzigerjahren war Frankreich für junge Köche einfach der place to be. Ich habe dort viel gelernt, was unsere Küche heute noch formt.“

1978, zwölf Jahre nach der Eröffnung, erhielt das Da Vittorio seinen ersten Michelinstern, 1996 folgte der zweite. Den dritten Stern sollte der Firmengründer nicht mehr erleben: Vittorio Cerea starb ausgerechnet im Jahr des großen Umzugs nach Brusaporto. Auch die Eröffnungen der Da-Vittorio-Dependancen in St. Moritz und Shanghai, die beide 2020 mit zwei Michelinsternen ausgezeichnet wurden, die Eröffnungen der legeren DaV-Lokale sowie die Gründung des DaV Pastry Labs fanden nach Vittorio Cereas Ära statt.

 

„Das Restaurant ist nicht bloß Arbeitsplatz, es ist unser Zuhause. Wir empfingen damals die Gäste bei uns zu Hause, und wir empfangen sie heute bei uns zu Hause.“

Ein Risotto voller Ausrufezeichen – visuell wie geschmacklich.

Herausragende Servicekultur
Das heutige Da Vittorio hat, wie so viele Dreisterner, die fernab von vergleichbaren Restaurants gelegen sind, eine inhomogene Gästeschar, wenngleich die meisten Einheimische sind. Am einen Tisch Fine-Dining-Neulinge, die länger sparen mussten, um sich hier, in einem der teuersten und berühmtesten Restaurants Italien, zu einem besonderen Anlass ein Dinner zu ermöglichen. Am anderen Tisch Gäste, denen Geldsorgen ebenso fern sind wie Old-School-Manieren und denen der Helikopterlandeplatz hinter dem Haus womöglich ein Begriff ist. Wieder an einem anderen Tisch ein Stammgästepaar, das vor wenigen Wochen erst hier war und statt eines langen Menüs eine Platte mit Meeresfrüchtepasta serviert bekommt.

Begrüßt werden alle von Bruna Cerea, die würdevoll durch den Gastraum oder über die Terrasse schreitet und an jedem Tisch „Buon appetito“ wünscht – behandelt werden hier alle wie Könige. Das Da Vittorio ist nicht umsonst für seine herausragende Servicekultur bekannt. Für Leute, die in der Gastronomie arbeiten, ist dieses Restaurant einer der Maßstäbe. Man liest hier nicht, wie man so schön sagt, Wünsche von den Augen ab, sondern antizipiert sie schon, bevor sie überhaupt bei den Augen ankommen. Mit der von ihr initiierten Academy will Rossella Cerea ihrem großen Team ermöglichen, derartige Soft Skills zu perfektionieren. Sie ist von jener Sorte Menschen, die sich gleichzeitig zugewandt unterhalten können, während sie mit der einen Hand eine Serviette vom Boden aufheben, die vor einer Sekunde noch gar nicht wusste, dass sie gleich vom Schoß einer Dame fallen würde, und mit der anderen Hand dem Sommelier ein kaum wahrnehmbares Zeichen geben, weil ihr unsichtbares Auge am Rücken auf dem Tisch hinter ihr ein leeres Weinglas erblickt hat. Für ein etwaiges Handy auf dem Tisch wird im Da Vittorio unverzüglich ein helles Lederetui geliefert, das dem Tisch seine ursprüngliche Eleganz zurückgibt.

 

Exzellenz auf jedem Niveau – das Patisserie-Labor von Da Vittorio.

 

 

 

 

 

 

Italienische DNA, kulinarische Meisterschaft
Zudem wären da noch die winzigen Gänge vorab – ob es eine Gänseleber-„Kirsche“ mit Meersalz und Kakaonibs ist, die Nachahmung einer grünen Olive in einem mit Olivenöl gefüllten Martiniglas oder ein Goldnugget aus getrüffelter Parmesancreme, der exakt erst in dem Moment schmilzt, in dem er dem Mund zugeführt wird: Sie werden anfangs alle auf dem Tisch platziert, um einer nach dem anderen – wie von unsichtbarer Hand verschoben – auf dem Platzteller direkt vor dem Gast zu landen, bevor dieser überhaupt realisiert hat, dass der eine Happen aufgegessen und nun der nächste an der Reihe ist. Wer abends und gleich am nächsten Tag zu Mittag im Da Vittorio isst, bekommt gänzlich andere Grüße aus der Küche – völlig selbstverständlich. All das wird von einer bemerkenswert unprätentiösen Haltung gesteuert; Effekthascherei und eitles Getue mit übertriebenen Gesten, wie es anderswo zu beobachten ist, sind dem Da Vittorio fremd.

Mit ihrem Küchenstil machen Chicco und Bobo Cerea unmissverständlich klar, dass ihre DNA italienisch ist. Nichtsdestotrotz wird man als Gast aber immer wieder auch auf Französisch und auf Molekular-Spanisch angezwinkert. Eine der bekanntesten Ideen des Da Vittorio sind die Spaghetti di tonno: Roher Thunfisch wird zu dünnen Strängen geschnitten und mit piemontesisch inspirierter Bagna-Cauda-Sauce (mit Sardellen und Knoblauch) wie ein Pastagang serviert.

Dem Restaurant DaV Mare im Städtchen Portofino widmen die Brüder einen farbenfrohen Risotto ai gamberi, der Ligurien auf einem meeresblauen Teller versammelt und vorführt, wie man ein schlichtes Reisgericht auf Drei-Sterne-Niveau bringt: Die Brühe mit Huhn und Gemüse gekocht, eine intensive Garnelenkopf-Bisque zum späteren Beträufeln angesetzt. Das frische Grün stammt von einem gemörserten Basilikumpesto mit ligurischem Olivenöl, das zwecks Farberhalt erst im letzten Augenblick zugegeben wird.

Die hochpreisigen Garnelen tragen das ligurische Herkunftsprädikat Santa Margherita, ihre ausgelösten Schwänze landen als rohe Stücke auf dem Risotto, während die Köpfe während des Rührens durch ein Sieb in das Risotto gepresst werden – auf ihre Geschmacksdichte will man nicht verzichten. Ein Hauch geriebene Limettenschale sorgt für ätherische Frische, einzelne Lachskaviarperlen fügen salzige Meeresaromatik hinzu, während der für die Balance wichtige Säurekick von Klecksen aus Ochsenherztomaten-Schaum stammt, der subtil mit Thymian, Jungzwiebeln und Knoblauch gewürzt wird. Ein Risotto mit unzähligen Ausrufezeichen – optisch wie geschmacklich. Andere Gänge spielen mit der Kunst der Augentäuschung – da wurde Chicco Cerea wohl von Ferran Adrià geprägt, der diese Disziplin im elBulli auf die Spitze getrieben hat. Beim Ausblasen solle man sich etwas wünschen, empfiehlt der Service beim Auftragen eines bescheiden anmutenden Kerzenstumpens – der sich als Foie Gras mit herunterrinnendem „Wachs“ aus gelierter Mandelmilch entpuppt.

Die legendären Paccheri
Worauf kaum ein Gast im Da Vittorio verzichtet: auf die legendären Paccheri, die riesigen Hohlnudeln mit einer Kochzeit von 28 Minuten. Sie werden auf einem Wägelchen neben dem Tisch mit einer Sauce aus dreierlei Tomatensorten und Parmesan finalisiert und erst nach Anlegen eines Lätzchens mit der Aufschrift „oggi sono goloso“ – „heute bin ich gefräßig“ – vor den Gast gestellt.

Wenn man ein gemeinsames Foto mit Chicco möchte, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, spricht ein Kellner aus Erfahrung. Wie viele Fotos von Lätzchen-behängten Gästen neben einem lächelnd den Arm um sie legenden Chicco Cerea wohl auf Instagram kursieren …?

Zu den Paccheri kommt Brot: „per fare la scarpetta“. Sprich: Die Sauce im Da Vittorio ist so üppig dimensioniert, dass immer genug übrig bleibt für die uritalienische Tradition des Tellerauswischens mit einem Stück Brot (wörtlich übersetzt: einen kleinen Schuh machen). „Das Brot ist wichtiger als die Pasta“, meint ein Kellner mit verschmitzt hochgezogenen Mundwinkeln.

Die vertikale Farm direkt vor dem Hauptgebäude, verstärkt die Intensität der Aromen.

Kulinarische Spitzenleistung auf allen Ebenen
Wem nach dem Mahl der Sinn nach einem Kräutertee steht, kann von einem üppig bestückten Wagen wählen: Diese Vielzahl an ätherisch-frischem Grün wächst wenige Schritte vom Restaurant entfernt, was einer zukunftsträchtigen Kooperation mit dem Mailänder Unternehmen Planet Farms zu verdanken ist. Unterhalb des Hauptgebäudes wurde 2021 eine Vertical Farm eröffnet, die technisch auf dem neuesten Stand ist; es ist die erste maßgeschneiderte Anlage von Planet Farms für ein Restaurant. Eine Vollzeit-Agronomin ist in diesem modernen Quader damit beschäftigt, für das Da Vittorio Pflanzen wie Basilikum, Shiso, verschiedene Kressearten oder Blattsalate anzubauen – in Regalen übereinander, gezielt beleuchtet und beheizt, von unten bewässert. Dies alles verbessert die Intensität des Aromas entscheidend, wie beim ersten Biss in eines der Blätter zu erkennen ist.

Getüftelt wird auch im 2020 eröffneten Pasticceria DaV Pastry Lab, wenige Kilometer von Brusaporto entfernt. In dieser hochmodernen Produktionsstätte hat mit Davide Comaschi ein Weltklasse-Chocolatier das Sagen: 2013 gewann er die World Chocolate Masters. Seine Pralinen in futuristisch anmutenden, preisgekrönten Formen werden im Da Vittorio als Petit fours gereicht, die sortenreinen Herkunftsschokoladetafeln, seine winzigen Törtchen und die „lievitati“, Spezialitäten aus Hefeteig, zieren die Vitrinen des Cavour 1888.

Diese alteingesessene Konditorei ist in Bergamos mittelalterlicher Città Alta zu finden, dem per Standseilbahn erreichbaren Festungsstadtteil. Seit 1994 gehört das Lokal der Familie Cerea. Vor wenigen Jahren wurde es aufwendig renoviert – mit Rücksicht auf bestehende Fresken und andere Details. Neuerdings gibt es auch einige Hotelzimmer über der Konditorei, die den Gästen des Da Vittorio zusätzlich zu den zehn Zimmern im Haupthaus in Brusaporto zur Verfügung stehen.

Da Vittorio mal zwölftausend
Während die Gästezahl im Da Vittorio noch überschaubar ist, hat es Francesco Cerea mit anderen Dimensionen zu tun: Er ist Chef des Cateringsektors im Familienunternehmen – ein weiteres wichtiges Standbein. „Ich muss Qualität und Quantität unter einen Hut bringen. Meine Aufgabe ist es, das Da Vittorio nach außen zu tragen.“

Ob Hochzeiten, runde Geburtstage in Privatvillen, der Juventus Premium Club im Allianz Stadium von Turin oder große Messen in Mailand oder Shanghai – Francesco genießt es, die Logistik dafür innezuhaben. Viele Leute, viel Adrenalin – er liebe das. „Der Gastraum war mir schon früh zu klein“, sagt er und macht dabei eine Bewegung, als wenn er sich aus einer zu engen Jacke schütteln würde. Wenn er von einem Event in Verona erzählt, bei dem an einem Sonntag der Herd einging, woraufhin er sich kurzerhand die Küche eines nahen Hotels „ausborgte“, wie er es formuliert, leuchtet sein ganzes Gesicht. „Ein paar Zahlen: Milano unica, die große Messe – zwölftausend Leute in drei Tagen. Zwölftausend.“

Szenografie ist ein Wort, das Francesco Cerea gern verwendet. Er fühle sich bei Events stets wie ein Filmregisseur, der alles schon vorher im Kopf hat, „das Personal, die Blumen, das Essen, die Weine“, und der wie aus der Vogelperspektive alles im Blick hat. Der Unterschied zu einem Filmdreh: „Ich habe nur eine Chance.“ Ein Hochzeitsmahl kann man in der Realität nicht wiederholen.

Francesco Cereas Aufgabe ist es, Da Vittorio in die Welt hinauszutragen.

Francesco Cereas erste Liebe, so bezeichnet er es, ist aber der Wein. Die zwei Hektar direkt hinter dem Da Vittorio, aus denen der hauseigene Wein namens Faber entsteht, sind ihm genauso lieb wie der sagenhaft bestückte Keller und die Weinkarte im Drei-Sterne-Restaurant. Viele Seiten Champagner, viele Seiten Piemont. Große Namen und kleine Namen, deren Weine einem Erweckungserlebnis gleichen. Einen unübersehbaren Schwerpunkt bildet Franciacorta, der Schaumwein der Lombardei.

Diese Region, die Heimat der Familie Cerea, erlangte vor einigen Jahren weltweit traurige Berühmtheit: Das Corona-Virus raffte in der Lombardei, vor allem in Bergamo, außerordentlich viele Bewohner:innen dahin. Die Familie Cerea handelte rasch: Das Da Vittorio kochte nicht nur tausende Mahlzeiten am Tag für das Gesundheitspersonal und andere Einsatzkräfte, sondern stellte auch Essenspakete für betagte oder erkrankte Menschen, die ihr Haus nicht verlassen konnten, zur Verfügung, erzählt Rossella Cerea. „Pasta, Saucen, Salate, so etwas.“ Dieses Engagement für die Lombardei ist neben der Servicekultur und der Präsenz der Gastgeber:innen einer der Gründe, warum der Respekt vor der Familie Cerea in Norditalien derartig hoch ist. Egal, wen man fragt, ein Faible für Gastronomie vorausgesetzt: Das Da Vittorio ist ein Restaurant gewordener Säulenheiliger.

Text
Anna Burghardt
Fotografie
Stefan Fürtbauer
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