Acquired Taste Teil 2
Italiens Liebe zu
bitteren Drinks
Die italienische Bitterkultur endet nicht am Tellerrand. Sie zieht sich durch Cafés, Apothekenfläschchen und Barregale – als Konstante eines Geschmacks, der gelernt sein will, aber süchtig macht.
(Bitter) Italiens Liebe zum Bitteren kennt keine Grenze zwischen Essbarem und Trinkbarem. Was einst medizinisch gedacht war – zur Verdauung, zur Reinigung, zur Stärkung – ist längst fester Bestandteil der Alltags- und Genusskultur geworden: im tiefschwarzen Espresso, im leuchtend roten Aperitif, im herben Nachhall eines Amaro.
Sie findet sich in den aromatischen Tiefenschichten italienischer Lebenskunst wieder: in traditionsreichen Rezepturen, in kleinen Manufakturen, in Zitrusgärten und Gemüsebeeten. Ein Geschmack, der vieles ist: Genußmittel, Heilmittel, Ritual.
Bitter in der Tasse, bitter im Glas
Bei näherer Betrachtung beruhen viele italienische Spezialitäten auf Bitterkeit. Gleich, ob aus der Bialetti oder Siebträgermaschine, stark muss der caffè sein, mit perfekter crema und wenigstens einem Hauch Bitterkeit. Mehr als sieben Milliarden Euro geben Italienerinnen und Italiener im Jahr für Kaffeespezialitäten außer Haus aus. Neben Platzhirschen wie Illy, Lavazza und Co bringt das Land mehr und mehr Mikroröstereien hervor. Als eine der besten gilt die 2016 gegründete Turiner Dropstery, deren Gründer Maurizio Galiano sich als Slow-Food-Mitglied zudem für nachhaltige Produktionsbedingungen einsetzt. Außerdem unbedingt zu nennen sind das Florenzer D612 und das RoaTS im besonders kaffeeaffinen Triest.
Begleitet wird der Espresso möglicherweise von einem Stück Schokolade aus der Meraner 58-Chocolat-Manufaktur. Zu René Romens beliebtesten Sorten zählen Dark Espresso und Dark Juniper, beide mit über 70-prozentigem Kakaoanteil. Bei der ebenfalls extrabitteren Dark Sea Salt macht sich der Südtiroler ein Geschmacksgesetz zunutze, wonach Salz bittere Speisen weniger bitter erscheinen beziehungsweise weitere Geschmackspartner stärker hervortreten lässt, in diesem Fall die Süße der Schokolade. Espresso mit einem Löffelchen Zucker: gleiches Prinzip.
Ein Schluck Medizin
Je weiter so ein italienischer Tag voranschreitet, desto wahrscheinlicher ist es, dass statt Kaffee etwas Hochprozentiges im Glas landet.
„Am Ende einer geselligen Mahlzeit einen Amaro zu trinken, ist eine sehr alte Tradition, nicht nur zur besseren Verdauung, sondern auch als Schlusspunkt eines geteilten Essens“, erklärt Riccardo Molinero. Seine Bordiga 1888 trägt das Entstehungsjahr im Namen, ansässig ist die Brennerei im piemontesischen Cueno. Neben Wermut gehören Amari wie der Dilei, St. Hubertus oder Monasticus zu den Vorzeigeprodukten. Von Hand werden die darin enthaltenen Alpenkräuter gesammelt – mit Ausnahme der unter Artenschutz stehenden Ährigen Edelraute wachsen alle davon wild. „Ich empfehle, unseren Amaro pur zu trinken, vielleicht mit einem Eiswürfel und Zitronen- oder Orangenzeste“, verrät Molinero. „Tonic funktioniert aber auch, und mit Prosecco wird daraus ein Amaro Spritz.“
A wie Averna bis Z wie Zucca
Ins Deutsche übersetzt heißt Amaro schlicht „bitter“, gemeint sind in Italien produzierte Bitterliköre. Viele Rezepte sind klösterlichen Ursprungs, die Apothekerflaschen also nicht nur Marketinggag. Von A wie Averna bis Z wie Zucca: Lang ist die Liste der weltweit beliebten Marken. Was wäre ein pranzo ohne Verdauungs-Ramazotti, ein Cena ohne Fernet Branca? Ein Sommer ohne Campari Soda – Samin Nosrat, Autorin des Bestsellers „Salz, Fett, Säure, Hitze“, empfiehlt, ihn mit ein wenig Salz zu verfeinern – oder Aperol Spritz? Mindestens so köstlich ist der Cynar Spritz, basierend auf dem gleichnamigen Artischockenlikör.
Immer beliebter wird auch der zu gleichen Teilen aus Gin, Campari und trockenem Wermut bestehende Negroni, erfunden um 1920 in Turin zu Ehren des gleichnamigen Grafen, der angeblich bis zu vierzig Stück täglich trank. In der während Fashionweek und Salone Del Mobile stark frequentierten Mailänder Bar Basso wiederum wurde der Negroni Sbagliato aus Proseccoschaum geboren.
Dank Herstellern wie Cocchi und Antica Torino gilt Turin als Wermuthochburg. Dort befindet sich auch die im dunkel-eleganten Stil einer American Bar gehaltene Bar Cavour mit Messinglampen, Samtfauteuils und einer vom venezianischen Künstler Arturo Herrera gestalteten Blattgolddecke. Zu den Signature Cocktails zählen mit Minzsoda aufgegossener Del-Professore-Wermut; ein mit Nori-Alge verfeinerter Negroni; der aus Campari, Cynar und Ginger Beer bestehende Torino Mule sowie ein Drink namens Martini del Cambio mit dem im Piemont hergestellten Wermut 9 Di Dante Purgatorio.
Bei manchen handwerklich arbeitenden Betrieben ist Amaro nur ein Nebenprodukt – wie im Fall des sizilianischen, von einem Architektenduo geführten Weinguts COS, dessen Naturale mit Noten von Lakritz, Zitronenminze, Walderdbeere und der für Süditalien so typischen Blutorange betört. Dem Geist der legendären venezianischen Harry’s Bar entspringt der Cipriani Amaro 7 Parti mit Carciofo-Violetto-Artischocken von der venezianischen Insel Saint Anthony. Im Umland von Verona wiederum wird der Hàntak produziert, dessen ungewöhnlicher Name der Sprache eines germanischen Volksstamms, den Kimbern, entnommen ist und übersetzt „bitter“ bedeutet. In früheren Zeiten diente sie nicht nur Heilungszwecken, sondern auch der Vertreibung böser Geister.
„Hat man das Bittere erst einmal lieben gelernt,
gibt es kein Zurück.“