Heiße Quellen
Stille Wasser sind tief
In ihrer Monografie „Hot Springs” bereist die Fotojournalistin Greta Rybus die Welt auf der Suche nach Thermalstätten, an denen wir mit der Natur, mit uns selbst und miteinander in Verbindung treten.
Im Gespräch mit Greta Rybus über ihr Buch “Hot Springs”
(Einzigartige Orte)
Tintenschwarze Blasen wirbeln um eine kleine Spalte, die den Boden durchbricht. Ein kristallklarer Strahl ergießt sich aus einem gewundenen Rohr in eine Freiluftwanne. Schräg einfallende Lichtstrahlen enthüllen glänzende Fliesen in einem sich leise kräuselnden Badehausbecken oder die Patina abgenutzter Zedernholzdielen, die einem dampfenden, flüssigen Quadrat weichen. Einige dieser Gewässer sind durch verzierte Gewölbedecken geschützt und werden seit Jahrhunderten mit Sorgfalt gepflegt. Andere sind den Elementen ausgesetzt und sehen nachts die Sterne. Jedes von ihnen ist ein Refugium; ein Ort der Verbindung zwischen Mensch und Natur, dem Körperlichen und dem Elementaren.
„In einer heißen Quelle zu baden, heißt, von den dynamischen Kräften des Planeten gewiegt zu werden“, schreibt Greta Rybus in ihrer Einleitung zu “Hot Springs”, ihrer Monografie über natürliche Thermalbadeorte und -rituale auf der ganzen Welt. Die in Idaho geborene und in Maine lebende Fotojournalistin mit einer Ausbildung in Kulturanthropologie war über ein Jahr unterwegs, um ihren Liebesbrief an das Baden zu verfassen. Die aufwändige logistische Leistung, die sie im Alleingang koordinierte, führte sie an über zwei Dutzend Orte rund um den Erdball, von den mattweißen Landschaften Grönlands bis zum staubig pastellfarbenen Terrain des Salar de Uyuni, der größten Salzpfanne der Welt in der bolivianischen Region Potosí.
ONSEN DER PRÄFEKTUR AOMORI, JAPAN
Weit im Norden der japanischen Insel Honshū verkörpern die Onsen der Präfektur Aomori die Harmonie der natürlichen Reichtümer und des Eintauchens in die Kultur. Umgeben von sattgrünen Bergen und ruhigen Küstenausblicken bieten die Thermalquellen der Region einen Zugang zu Japans reichen Traditionen und therapeutischen Baderitualen.
Die Rhythmen und Texturen von Aomori haben für Rybus eine persönliche Bedeutung. Sie verbrachte zwei Jahre ihrer Teenagerzeit in Misawa, wo ihre Eltern unterrichteten. Nachdem sie mit dem Shinkansen für ihre “Hot Springs”-Tour in die Region zurückgekehrt war, ging sie zuerst zum Sukayu Onsen, einem Ryokan (traditionelles Gasthaus) mit einem Onsen, der für tausend Personen ausgelegt ist. „Bei geschlossenen Fenstern gegen die spätherbstliche Luft war der Onsen so feucht, dass mein Objektiv sofort beschlug“, schreibt sie. „Mir fiel auf, wie still der Raum inmitten der Menge der Badenden war. Es roch nach Zeder und Schwefel.“
Ihr zweiter Halt führte sie in die Hakkōda-Berge zum Michinoku Fukazawa Onsen, der von der Lokalberühmtheit Mikami-san geleitet wird, die die Lobby des Onsen als ihr Wohnzimmer eingerichtet hat – „gemütlich und persönlich und unvollkommen“. Entschleunigte Aufenthalte im Lamp no Yado Aoni Onsen, der von Kerosinlampen beleuchtet wird, die flackernde Reflexionen über das Wasser werfen, und im Furōfushi Onsen – „zwei ockerfarbene Bäder neben dem wogenden Ozean“ – rundeten die regionale Tour ab.
Grutas Tolantongo, MexiKo
In der zerklüfteten Berglandschaft von Hidalgo, Mexiko, vier Autostunden von der weitläufigen Hauptstadt des Landes entfernt, liegt Grutas de Tolantongo, ein „aufwendig gestaltetes Netzwerk aus Becken, Rohren und Pfaden, eingebettet in einen steilen Berghang“, wie Rybus es ausdrückt. Sie spricht von insgesamt 80 Becken, obwohl sie „bei fünfzig den Überblick verloren hat“. Die heißen Quellen liegen 1.280 Meter über dem Meeresspiegel und werden von einer Wasserquelle gespeist, die aus einer großen Karsthöhle „hinter einem Gitter aus Wasserfällen“ entspringt. Das Wasser wird auf natürliche Weise auf etwa 20 °C erwärmt, während es durch eine Reihe von Kanälen fließt und sich in einen faszinierenden türkisfarbenen Fluss schlängelt, der durch Höhlen und Felsformationen fließt und leicht abkühlt, während er über eine Reihe versetzter Becken hinabstürzt.
Die Thermalbecken, die für ihr mineralreiches Wasser mit angeblich heilender Wirkung berühmt sind, ziehen Tagesausflügler:innen und Tourist:innen an, die inmitten einer beeindruckenden Naturkulisse Erholung suchen. Die dramatische Berglandschaft und Ausblicke auf die Wüste rund um die heißen Quellen bieten eine malerische Umgebung zum Wandern und Fotografieren.
Wie Rybus erzählt, sind die Grutas de Tolantongo Teil der Ejido (Kooperative) von San Cristóbal, deren Mitglieder Zitrus- und Avocadoplantagen anbauten, die inmitten des Dampfes der Quellen gediehen. „Das Ejido-System ist mit ‘buen vivir’, sprich ‘gutem Leben’ verbunden, einem Konzept und einer Praxis, die auf der indigenen Philosophie Lateinamerikas basiert und das gemeinschaftliche Wohlergehen und die Harmonie betont [… unter Berücksichtigung] von Ökosystemen, Familien und einer langfristigen Zukunft“, schreibt sie.
Thermalquellen im Landesinneren von São Miguel, Azoren, Portugal
São Miguel, die größte Insel des portugiesischen Azoren-Archipels, ist für ihre einzigartigen heißen Quellen im Landesinneren bekannt, die vom vulkanischen Ursprung und der geothermischen Aktivität der Insel zeugen. Diese natürlichen Thermalquellen, die über die ganze Insel verstreut sind, unterscheiden sich in Temperatur und Mineralzusammensetzung.
Eines der malerischsten Becken, das Poça da Dona Beija, ist nach der Protagonistin der gleichnamigen brasilianischen Telenovela benannt. In der Pilotfolge der Serie von 1986 wird sie gezeigt, wie sie sich mit Schlamm bedeckt, während sie nackt in einem Wasserfall badet, weit entfernt von der harten Lebensrealität der echten Person, auf der ihre Figur basiert. Der natürliche Infinity-Pool ist von einem üppigen Teppich der grünen Hügel gesäumt und wird durch den konstanten Fluss mineralischer Ablagerungen orange gefärbt.
In der Mitte der Insel besucht Rybus die Caldeira Velha im Schatten des Massivs des Água de Pau Schichtvulkans, dessen smaragdgrünen Farbton sie als schimmernde Krone in der schillernden Grünpalette der Insel beschreibt. „Thermalwasser ist in seiner wildesten Form kochend und bedrohlich“, bemerkt sie. „Es muss mit kaltem Wasser gemischt werden. Es bedarf Gegenseitigkeit, um die Quellen genießen zu können […] sie führen uns buchstäblich in den verborgenen Kern des Planeten ein, den wir unser Zuhause nennen.“
Mývatn Naturbäder, Island
Das weniger bekannte Gegenstück zu Islands berühmter Blauer Lagune, die milchig-kornblumenfarbenen Mývatn-Naturbäder, kanalisieren die natürliche Energie der Bjarnarflag-Geothermiestation. Sie liegen im Nordosten Islands an den Ufern des gleichnamigen Sees in einer spektakulären Landschaft, die von Vulkankratern und Lavaformationen geprägt ist. Sie heißen – neben anderen Gästen – Wandernde willkommen, die die Hänge des Námafjall-Bergs hinabsteigen, um ihre müden Knochen im „brusthohen Wasser und auf dem schlammigen Boden“ auszuruhen und neue Energie zu tanken.
Die Bäder werden von einem geothermischen Bohrloch gespeist, das mineralreiches Wasser aus Tiefen von bis zu 2.500 Metern unter der Erdoberfläche fördert. Seine Temperatur beträgt durchschnittlich 36 bis 40 °C, was es ideal für das Baden zu jeder Jahreszeit macht. Die Kieselsäure- und Schwefelverbindungen, die zu seiner Mineralzusammensetzung gehören, sollen therapeutische Eigenschaften für Haut und Gelenke haben.
Rybus bemerkt den „ruhigen Sinn für Ordnung“ der Bäder mit Swim-up-Bar, Dampfbad und Café. Sie erzählt von einem Gespräch mit der isländischen Anthropologin Helga Ögmundardóttir, die die wohltuende Normalisierung unterschiedlicher Körper durch heiße Quellen zum Ausdruck brachte – „Ihr Körper ist Ihre Herberge für dieses Leben!“ – und vom köstlichen Geschmack einer Scheibe warmen, süßen, mit Butter bestrichenen Roggenbrots, das in vulkanischer Hitze nach dem Familienrezept von Jón „Nonni“ Friðriksson gedämpft wird, der zusammen mit seinem Vater das nahe gelegene Restaurant Kaffi Borgir betreibt.
Therme Vals, Schweiz
Die Therme Vals im schweizerischen Vals ist für ihre minimalistische Architektur bekannt. Das vom Schweizer Architekten Peter Zumthor konzipierte und 1996 fertiggestellte Thermalbad fügt sich nahtlos in seine alpine Umgebung ein. Die Architektur des Komplexes betont natürliche Materialien wie den lokal abgebauten Valser Quarzit, der seiner modernen Form ein ländliches Flair verleiht. Die Baderäume zeichnen sich durch klare Linien und geometrische Formen aus, während ein harmonisches Zusammenspiel von Licht und Schatten eine kontemplative – fast heilige – Atmosphäre für die Badegäste schafft.
Die Therme Vals ist gleichermaßen für ihr Thermalwasser bekannt, das aus nahegelegenen natürlichen heißen Quellen stammt und therapeutische Wirkung haben soll. Rybus, die die Therme Vals als „brutalistischen Schrein für das heiße Wasser“ beschrieb, konnte das Fotoverbot der Einrichtung umgehen, indem sie tagsüber badete und in der Abenddämmerung, während der Aufräumzeit, mit ihrer Ausrüstung zurückkehrte.
„Ich war auf eine ziemlich isolierte Art dort“, erzählt sie Maison Ë. „Kein Telefon, keine Geräte, ich habe einfach beobachtet, wie diese Lichtstrahlen in den Raum kamen und wie sie sich veränderten, wenn eine Wolke vorbeizog – im Vergleich zu reinem Sonnenlicht oder gesprenkeltem Licht durch die Bäume. Ich habe es geliebt, diese Zeit zum Beobachten zu haben und dann auch zu sehen, wie Fußabdrücke vom Stein verschwanden, nachdem Menschen sich von ihnen entfernten, ich habe die Geräusche des Wassers gehört und gespürt, wie unterschiedlich sich mein Körper anfühlte, wenn ich zwischen dem heißen Becken, dem kalten Becken und dem sehr, sehr, sehr heißen Becken hin- und herging.“
ÜBER
Greta Rybus
Durch ihre aufmerksame Beobachtung, die bewegenden Geschichten von Zufallsbegegnungen und das geschickte Umgehen logistischer Hürden, fängt Rybus auf respektvolle Weise die Seele jeden Gewässers und seiner vielseitigen Ökosysteme ein, in die es eingebettet ist. Sie nahm Maison Ë mit hinter die Kulissen der feinfühligen Erzählung ihres Buches, um den Entstehungsprozess dahinter zu teilen und uns daran zu erinnern, dass das, was wir pflegen, auch uns pflegt.
Maison ë Was macht das Eintauchen des Körpers in heißes Wasser so magisch?
Greta rybus Durch das Verändern der Körpertemperatur, sei es in der Sauna, im Kaltbad oder in der Thermalquelle, fühlt sich Ihr Körper wirklich lebendig an. Sie können das Pulsieren Ihrer Blutgefäße und Nerven spüren; manchmal spüren Sie Ihr Herz pochen oder Schweiß oder Kondensation. Wenn Sie im Badeanzug oder nackt mit anderen Menschen in einer heißen Quelle sind, ist das ganz anders als das „Bikinikfigur“- oder Stranderlebnis. Ich denke, es ist eine sanftere Art, den Körper im Wasser zu erleben.
M.ë Als Fotojournalistin mit einem gleichzeitigen Abschluss in Kulturanthropologie bereisen Sie die Welt und fangen die menschliche Erfahrung der Natur ein. Was lieben Sie an Ihrer Arbeit am meisten?
G.R. Es ist ein sehr interaktiver Job. Es fühlt sich oft so an, als wäre ich ewige Praktikantin, die Zeit mit Menschen verbringt und etwas über ihre Welt oder ihr Universum lernt. Ich bin in erster Linie Beobachterin, darf aber auch Fragen stellen und mich so fühlen, als sei ich in die Welt einer anderen Person eingetaucht. Und als neugieriger Mensch liebe ich es, das beruflich tun zu können.
Ich habe auch viele Fragen dazu, wie die Welt funktioniert und wie wir sie auf unterschiedliche Weise verstehen können, insbesondere unsere Beziehung zur Natur. Überall um mich herum sehe ich viele Beispiele für unterschiedliche Arten, in der Natur zu sein. So kann ich von Menschen lernen, die ich hilfreich finde oder die sich gut um ihre Umwelt kümmern. Das finde ich wirklich faszinierend und inspirierend. Und ich teile das gerne mit meinem Publikum.
M.ë Da Sie als Kind regelmäßig in Thermalquellen gebadet haben, ist das Ritual des Heißwasserbadens ein wesentlicher Bestandteil Ihrer persönlichen Geschichte. Doch sowohl technisch als auch kulturell können heiße Quellen eine Herausforderung für das Fotografieren sein. Wie kamen Sie auf die Idee für dieses Buch?
G.R. Ich wollte den Umfang der Geschichte so steuern können, dass ich meine eigenen Fragen beantworten oder meine eigene Neugier auf diese Orte stillen konnte. Ich wollte über manche größere Ideen sprechen, wie etwa über die gemeinschaftliche Nutzung von Land und Ressourcen, sogar über Wiedergutmachung und die Art und Weise, wie Menschen über viele Generationen hinweg Geschichten über das Land erzählen.
M.ë Können Sie uns etwas über Ihren kreativen Prozess bei der Auswahl der einzelnen Orte erzählen? Was waren Ihre Kriterien?
G.R. Als ich sowohl allgemein als auch einzeln über jeden Ort nachdachte und darüber, was man diesen Orten verdankt, wurde mir klar, dass die Rolle des Fürsorgenden für das allgemeine Erlebnis der Thermalquellen wesentlich ist, unabhängig davon, ob sich jede:r Besucher:in der heißen Quellen vorübergehend in der Verantwortung sieht. Das ist eines der Themen dieses Buches, das ich den Menschen vermitteln möchte: dass wir alle, egal wohin wir gehen, Fürsorgende sind, insbesondere in einer fragilen Umgebung wie einer Thermalquelle.
Das erste Kriterium war also die Anwesenheit eines bzw. einer Verantwortlichen, jemandem, der sich darum kümmert, dass die Thermalquelle geschützt wird. Das zweite waren Geschichte und Vielfalt. Ich wollte, dass es entweder eine Ahnung von einer Geschichte gibt, die ich vor Ort recherchieren konnte, oder eine faszinierende Geschichte, die ich bereits durch meine Recherchen herausgefunden hatte. Ich wollte auch geografische Vielfalt und Vielfalt in Bezug auf Zugänglichkeit, Kosten, Design und Farbe des Wassers. Wer nutzt es? Gibt es Einheimische oder gibt es Tourismus? Spiegelt es die natürliche umliegende Gemeinde wider? Ich wollte, dass die Arktis, die Wüste und die Tropen alle vertreten sind.
Auf halbem Weg kam mir das Gefühl, als würde ein Puzzle zusammengefügt. Ich wollte sicherstellen, dass der afrikanische Kontinent vertreten ist, denn viele Menschen kommen vielleicht nur wegen einer Safari nach Afrika und wissen nicht, dass es dort Dinge wie Thermalquellen oder erstaunliche kulturelle Angebote gibt. Ich wollte Orte repräsentieren, die für ihre Spiritualität bekannt sind, wie Indien. Dann wollte ich kunstvolle, schöne Orte wie Budapest in Ungarn repräsentieren können.
M. ë Von der Seward-Halbinsel in Alaska bis nach Riemvasmaak in Südafrika haben Sie für dieses Buch über zwei Dutzend Thermalquellen auf der ganzen Welt besucht. Können Sie uns etwas über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten erzählen, wie Menschen auf der ganzen Welt heiße Quellen nutzen und dort ihre Zeit verbringen?
G.r. An manchen Orten, wie etwa in Japan mit seiner Sentō (Gemeinschaftsbadehaus)-Kultur, sieht man möglicherweise seine Nachbar:innen oft und ist verbunden über Klatsch und Geschichten. An Orten wie Island, wo viele Leute nach der Arbeit oder in der Mittagspause hingehen, treffen sich manchmal Kolleg:innen und reden über ihren Tag, fast so, wie viele Amerikaner:innen oder vielleicht Brit:innen oder Europäer:innen nach der Arbeit in die Bar oder ins örtliche Pub gehen. Man hat auch die Möglichkeit, sich mit seinem Mensch-Sein oder mit anderen zu verbinden. Das ist sehr kraftvoll. Und ich liebe es, wie individuell diese Verbindungen sein können. Sie nehmen je nach Ort, je nach Thermalquelle eine andere Form an.
Bezüglich der Gemeinsamkeiten fiel mir auf, dass viele Leute ein Gefühl der Nähe zu etwas beschrieben. Es mochte eine Gelegenheit sein, sich der Natur näher zu fühlen oder ihrem Körper oder ihrer Gemeinschaft. Fast ausnahmslos sprachen die Leute über eines dieser drei Dinge. Die Besonderheiten jeder heißen Quelle förderten ein Gefühl der Nähe oder Verbundenheit. Man konnte Nähe zu allem spüren, von der umgebenden Landschaft bis zur Geologie dieses Planeten.
M.ë Wie haben Sie die Balance geschaffen zwischen dem Einfangen der natürlichen Schönheit jeden Ortes und dem Respekt für seine kulturelle Bedeutung und ökologische Fragilität?
G.R. Im Abschnitt „Ethik und Etikette“ gleich am Anfang des Buches spreche ich darüber, wie wichtig es ist, als Reisende und Besucher:in den Raum buchstäblich und metaphorisch zu lesen. So oft habe ich mein Tempo und meine Arbeitsweise an das angepasst, was ich im Raum beobachtete. Es gibt Orte, die ich besucht habe, die unglaublich schön waren, die ich aber überhaupt nicht fotografiert habe, weil ich wusste, dass es nicht angemessen gewesen wäre, an einem so heiligen oder so intim wirkenden Ort zu fotografieren.
M.ë Wie hat die Erfahrung, “Hot Springs” zusammenzustellen, Ihre persönliche Beziehung zur Natur verändert?
G.R. Ich empfand tiefe Ehrfurcht vor dem Wasser. Ich meine, Grundwasser sickert in einen tieferen Teil der Erde und taucht mit Wärme und Mineralien wieder auf. Und das ist ein wundersames Phänomen. Allein an diesen Übergang zwischen dem innersten Teil der Erde und dem Wiederauftauchen an der Oberfläche zu denken und das Mitbringen besonderer Dinge, kraftvoller Dinge, die Menschen seit sehr langer Zeit, seit Tausenden von Jahren, nutzen, um sich selbst zu heilen oder um Trost und Fürsorge zu spüren.
Ich saß oft im heißen Wasser und dachte: ‚Es ist verrückt, dass dieses Wasser im Grunde genommen eine kleine Unterhaltung mit dem Innersten der Erde geführt hat und gleich wieder hochkommt.‘ Es ist ziemlich spektakulär, wenn man sich vorstellt, dass es für die Inuit oder altnordische Völker vor Tausenden von Jahren eine heiße Quelle in Grönland gab, an einem Ort, an dem es keine Bäume gab, um Wasser zu erhitzen. Dies war vielleicht das einzige Mal, dass ihre Körper in Wärme eingetaucht waren.
M.ë Was, hoffen Sie, werden die Leser:innen aus dem Buch mitnehmen?
G.R. Ich würde jedem empfehlen, auf Reisen einfach Zeit an einem Ort zu verbringen, ohne ihn dokumentieren zu müssen; einfach nur Beobachter:in zu sein. Einfach nur zuschauen und die Temperatur, die Farbpalette und die Stimmung des Lichts wahrnehmen. Ich kann diese Dinge an einer heißen Quelle sehr deutlich spüren, aber ich glaube auch, dass sie für jeden anderen Ort gelten. Jeder Ort hat seine eigene Atmosphäre und Stimmung, seine eigene Farbpalette und sein kleines Ökosystem. Und es lohnt sich, einfach Zeit damit zu verbringen, das wahrzunehmen und darüber nachzudenken, wie anders es sich vielleicht anfühlt als der Ort, von dem wir stammen oder an dem wir aufgewachsen sind, oder was zu diesem spezifischen Gefühl beiträgt, und ein bisschen neugierig darauf zu sein.
Ich möchte auch, dass Leute sich daran erinnern, dass die Natur eine ebenso tiefgründige Geschichte hat wie jeder Mensch. Und es lohnt sich, etwas über die Geschichte der Natur um uns herum zu erfahren. Eine Thermalquelle ist eine großartige Möglichkeit, sich daran zu erinnern, dass die Natur auch für uns sorgt, dass es ein Gefühl fortwährender Fürsorge seitens der Natur gibt. Und wir können im Gegenzug für sie sorgen.