Markus Schinwald
Markus Schinwald zählt mit Sicherheit zu den bedeutendsten Künstlern Österreichs. Er vertrat Österreich bei der Biennale in Venedig, unterrichtete in Yale, lebt und arbeitet zwischen New York und Wien. Sein Werk lässt sich weder auf eine Stilistik noch auf ein Medium reduzieren, das sich immer wieder reproduzieren lässt. Seine Auseinandersetzung ist eine mit der Welt, dem Menschsein und der Wahrnehmung. Seit einiger Zeit hat er die Professur für Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe inne.
(Kunstwelt)Bevor Markus und ich mit dem Interview starten, sprechen wir für eine gute Stunde. Wir kennen uns aus einer Zeit, als er noch studierte und ich gerade anfing, in der Werbung zu arbeiten. Das war vor 30 Jahren. Damals waren wir abends als Freundeskreis entweder auf Vernissagen, Konzerten oder Essen. Es war eine kreative Zeit des Aufbruchs und Entdeckens. Etwas, das sich, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellt, durch unser beider Leben zieht und geblieben ist.
MAison ë Wir haben uns zuletzt vor beinahe 30 Jahren gesehen. In der Zwischenzeit ist vieles in Deinem Leben passiert. Wie würdest Du Deinen Weg der letzten drei Jahrzehnte beschreiben?
Markus Schinwald Da gibt es ja immer einen Blick von innen und einen von außen. Von außen erscheint mein Weg wahrscheinlich rastlos und zu bewegt, um darin eine sinnvolle Dramaturgie zu finden. Für mich, von innen betrachtet, war es aber nicht so. Ich bin immer suchend geblieben. So etwas wie eine Glückssuche, obwohl das Glück mitgekommen ist. Mir war es wichtig, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Je kontrastreicher und vielfältiger diese waren, umso spannender fand ich es. So wie die Rolle des Professors eine neue ist, die sich erst durch die Praxis – das Tun – definiert und formt. Oder die Rolle des Ausstellungsgestalters, der den Blick, die Aufmerksamkeit, lenkt und so das Erlebnis formt.
M. ë Wie definierst Du Kunst?
M. S. Gar nicht. Was mich an meinem Tun interessiert, hat nur circa zehn Prozent mit Kunst zu tun. Ob etwas Kunst ist oder nicht, ist für mich unerheblich. Es macht auch keinen Sinn, gegen institutionelle Kunstdefinitionen anzukämpfen. Was vom Kunstbetrieb als Kunst definiert wird, ist Kunst.
M. ë Wie würdest Du Deine Kunst (in Bezug auf die heutige Welt) beschreiben?
M. S. Meine Arbeit ist eine Frage an den Status der Welt. Da diese sich in den letzten zehn Jahren sehr stark verändert hat, hat sich mit ihr auch meine Arbeit verändert. Mir ist der Perspektivenwechsel wichtig. Wie sieht die Welt aus der Perspektive eines 20-Jährigen aus? Wie aus jener einer Museumskuratorin? Ich sehe meine Arbeit als ein Amalgam der Wahrheit.
M. ë Du hast ursprünglich Mode studiert. Warum Mode?
M. S. Das war eine Entscheidung, die ich mit 14 getroffen habe, ohne zu wissen, was Mode ist. Ich habe Schneiderei von der Pike auf gelernt und sie ist immer präsent. Die Wahl von Farben, von Materialien, die Überführung von Zweidimensionalem in drei Dimensionen und die Frage, welche Funktion der Körper in so einer Herangehensweise spielt. Ich habe mich in meinen Werken früher mit Körperproblematiken befasst, mache das aber jetzt kaum mehr.
M. ë Wo verfließen für Dich die Grenzen zwischen Mode und Kunst?
M. S. In meiner Arbeit habe ich die Grenzen ganz klar gezogen. Die Mode hat vor allem in den 1990er Jahren eine Art Sehnsucht bedient. In der Arbeit von Künstler:innen wie Anne Imhof (deutsche Medienkünstlerin) verfließen die Grenzen und wachsen zusammen, die Trennlinie ist schwerer auszumachen.
Die Fragestellungen in der Kunst und der Mode sind ähnliche. Was ist das Erbe in der Kunst oder in der Mode? Welche Art von Gedächtnis hat es? Die Mode etwa hat ein Kurzzeitgedächtnis, die Kunst hingegen ein Langzeitgedächtnis. Je älter ich werde, umso mehr interessiert mich das Langzeitgedächtnis.
M. ë Was interessiert Dich an der Kunst? Wann war Dir klar, dass Du als Künstler arbeiten möchtest?
M. S. Es gab nie eine bewusste Entscheidung. Ich habe Dinge gemacht, die andere ausstellen wollten. Ich bin es geworden: So wie ein Jugendlicher das Erwachsensein imitiert, bis er es ist, so wachsen wir in unsere Rollen. Wir imitieren so lange, bis wir etwas sind.
M. ë Welche Künstler:innen schätzt Du? Welche haben Dich inspiriert?
M. S. Diejenigen, die keine klaren Grenzen haben. Der Markt verändert sich da auch sehr. Wenn man heute nach den zehn bekanntesten zeitgenössischen Komponist:innen fragt, wird kaum jemand die Frage beantworten können. Das war vor 100 Jahren anders. Und das passiert auch in der Kunst. Es gibt bereits eine Schwarmkunst auf TikTok, das sind tolle Arbeiten mit einer breiteren Autor:innenschaft. So große Namen wie Picasso oder Gerhard Richter wird es nicht mehr geben. Die Heldengeschichte in der Kunst verschwindet. Ich sehe das auch bei den Student:innen – die interessiert das nicht mehr.
„Ich bin es geworden: So wie ein Jugendlicher das Erwachsensein imitiert, bis er es ist, so wachsen wir in unsere Rollen. Wir imitieren so lange, bis wir etwas sind.”
M. Ë Du arbeitest auch als Kurator für die EVN Kunstsammlung. Die Arbeiten welcher Künstler:innen würdest Du derzeit ankaufen?
M.s. Ich persönlich kaufe am ehesten Arbeiten aus der Renaissance. Aber ich bin ein schlechter Anlageberater. Als Sammlung machen wir vor allem Kommissionen. So arbeiten wir mit zehn Künstler:innen pro Jahr und lassen sie etwas für uns entwickeln.
M. Ë Derzeit arbeitest Du mit existierenden Werken, die Du bei Auktionen erstehst und anschließend veränderst. Ist der Ausgangspunkt immer das ursprüngliche Werk? Siehst Du gleich, wenn Du ein Bild siehst, wo die Reise hingehen könnte? Woher nimmst Du die Ideen und Inspiration für Deine Werke? Wie ist der Prozess und wie lange dauert es, bis Du ein Bild fertiggestellt hast?
M.s. Wenn ich ein Bild kaufe, weiß ich noch nicht genau, was damit passieren soll – aber ich sehe das Potenzial. Früher habe ich auf Bilder draufgemalt und sie dadurch verändert. Heute male ich sie um. Die Originalbilder bleiben technisch intakt. Ich entnehme ihnen die technische Information und male in dieser bereits verwendeten Technik weiter. Jedoch verschränke ich zum Beispiel ein Barockbild gerne mit der Stilistik der 50er Jahre. Das Wissen aus dem Bild informiert meine Farb- und Pinselwahl. Es kann einem Bild dann zwei bis drei zeitliche Übergänge geben, die man kaum wahrnimmt. In der Musik gibt es dafür einen Begriff: die Kontrafaktur.
Es kann sein, dass ich eine Fläche male, die aussieht wie ein Rothko, diese aber mit einem Zweier Barockpinsel male – also einem ganz zarten Pinsel, bei dem der Farbauftrag dementsprechend länger dauert. Auch unterschiedliche Distanzen können in einem Bild kombiniert werden. Ein kleines Barockbild sehe ich mir aus einer geringen Distanz an. Ein abstraktes Werk aus den 50er Jahren hingegen braucht eine größere Distanz. Der Entwurfprozess ist immer digital und so schaffe ich eine 1:1-Vorlage für den/die Restorator:in oder für mich.
M. Ë Machst Du auch Auftragsarbeiten?
M.s. Ja, ich habe auch schon Auftragsarbeiten gemacht. Weniger Portraits, eher abstrakte Malerei, die mit etwas Gegenständlichem verbunden wird. So verschwimmt die Grenze zwischen gegenständlich und abstrakt.
M. Ë Du hast Österreich bei der Biennale in Venedig vertreten, in großen Galerien und Museen ausgestellt und Deine Arbeiten wurden in wichtige Sammlungen aufgenommen. Gibt es für Dich ein Haus, in dem Du gerne ausstellen oder eine Sammlung, bei der Du mit Deinen Arbeiten Teil sein möchtest?
M.s. Nein. Nur weil man Teil einer Sammlung ist, heiß das nicht, das man auch ausgestellt wird. Hier ist entweder mein Ehrgeiz vorbei oder der Pessimismus hat mich eingeholt. Für mich ist ein Kunstwerk ein Zielpunkt, an dem alles zusammenkommt: das Studium, die Recherche, die Erstellung, die Kritiker:innen, Journalist:innen und Sammler:innen.
Das Werk ist oft auch eine Eintrittskarte in einen sozialen Kontext, der Zugang oder die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft – jener der Sammler:innen, des Kunstliebhabenden, der Intellektuellen, und so weiter. Für mich spielt das keine große Rolle.
Die Erstellung meiner Bilder ist ein sehr langwieriger Prozess. Es gibt wahrscheinlich kaum einen Maler, der so langsam produzieren kann wie ich. Wir machen vier Bilder im Jahr. Jedes Bild ist ein kompletter Neuanfang. Die Wiedererkennung geschieht auf einer technischen Ebene und ist für viele Betrachter:innen vordergründig wahrscheinlich nicht nachvollziehbar.
M. Ë In Deiner Kunst, wo Du Dich unterschiedlicher Medien bedienst, setzt Du Dich mit Wahrnehmung und Körper auseinander. Was fasziniert Dich an diesem Themenfeld?
M.s. Gar nichts mehr. Mich hat das fasziniert, da wir alle die Welt durch unsere Körper wahrnehmen und kennenlernen. Unser Körper ist der Schlüssel zum Verständnis der Welt. Die Portraits, die ich mit Prothesen oder Tüchern über dem Kopf dargestellt habe, sollten uns etwas zeigen, das wir selbst nicht aus Erfahrung kennen und für uns nicht nachvollziehbar ist. Aber seit wir alle Masken tragen mussten, habe ich damit aufgehört, da es zu nah an einer persönlichen Erfahrung ist. Meine Arbeit wurde von der Realität eingeholt.
Vor acht Jahren habe ich Kriegsbilder gemacht, auch das wurde leider von der Realität eingeholt. Und für die Wiener Festwochen habe ich eine Performance entwickelt, einen Totentanz – das Projekt wurde von der Pandemie eingeholt. Das ist eine sehr unangenehme Entwicklung.
„Ich bin immer suchend geblieben. So etwas wie eine Glückssuche, obwohl das Glück mitgekommen ist. Mir war es wichtig, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Je kontrastreicher und vielfältiger diese waren, umso spannender fand ich es.”
M. Ë In der Spagyrik (aus dem Griechischen „spao“ für herausziehen, trennen und „ageiro“ für vereinigen, zusammenführen), einem Verfahren der Arzneibereitung aus der vorchristlichen Zeit, werden durch die Trennung und Wiedervereinigung von Wirkprinzipien einer Droge eine Wirkungssteigerung erzielt. In der Feldenkrais-Methode werden Bewegungssequenzen auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt. So werden neue Bewegungsmuster gelernt. Das erinnert mich sehr an Deine Arbeiten. Ist die Wirkungssteigerung oder das Erlernen von etwas Neuem auch Deine Absicht?
M.s. Ja, auf jeden Fall. Bei der Gestaltung von Ausstellungen (Martin Schinwald macht Ausstellungsgestaltungen u. a. für die Heidi Horten Collection in Wien, Anm. d. Red.) ist das für mich zentral. Wir können durch unseren Körper sehen lernen. Ich finde es spannend, Konventionen zu brechen und dadurch das Erlebnis zu verändern – Fehler einzubauen, um mit Gewohntem zu brechen.
M. Ë Du wechselst zwischen Medien und Produktionsarten. Startest Du mit Themen und entscheidest dann, wie Du das Thema darstellen möchtest oder hast Du auch schon mal gedacht: Ich möchte eine Performance machen – und hast erst dann ein Thema dazu gesucht?
M.s. Es startet immer mit einem Anlass, einer Einladung und einem Problem. Was mich eigentlich interessiert, ist die Lösung von Problemen, wie zum Beispiel limitierte Räume oder Budgets oder zu wenige Mitarbeiter:innen. Wenn es keines dieser Probleme gibt, dann suche ich eines und trage es an den/die Auftraggeber:in heran, damit etwas Interessantes entstehen kann.
M. Ë Du lebst und arbeitest vorwiegend in Wien und New York. Welche Qualitäten schätzt Du an Wien und New York? Wo sind für Dich die eklatantesten Unterschiede?
M.s. Wien ist deutlich angenehmer und vom Sozialleben her ausgeglichener. New York war, anders als Wien, von den 70er Jahren bis in die späten 90er Jahre ein Magnet für alle internationalen, schrägen Leute. Es ist noch immer internationaler und diverser als Wien. Es gibt in New York jetzt natürlich auch noch 70- bis 80-Jährige, die schräg sind. Die Bandbreite an Lebensstilen ist größer als in Wien. Aber New York ist in der Zwischenzeit so teuer geworden, dass es für junge als auch alte Menschen unzumutbar ist. Es ist nur noch mit viel Geld machbar, dort zu sein und die Stadt zu leben.
In Wien gibt es Leute, die den gleichen Beruf haben wie ich, die ich nicht kenne. Es gibt also einen unbekannten Rest. Die Stadt eröffnet die Möglichkeit, abzutauchen und Neues zu entdecken.
M. Ë Was vermisst Du, wenn Du in New York bist und vice versa?
M.s. Weniger die Städte, als die Rollen, die ich dort einnehme. In unterschiedlichen Kontexten haben wir unterschiedliche Rollen. So bin ich, wenn ich bei meinen Eltern in Salzburg bin, immer auch noch Kind. In Wien vermisse ich das auch manchmal.
M. Ë Wo geht die Reise der Kunst hin?
M.s. Für mich sind meine Student:innen eine Möglichkeit, Spionage an der Zukunft zu betreiben. Sie bieten mir die Möglichkeit eines Austausches. Sie sind mir ein Gegenüber, das ich brauche, um Ideen auszuprobieren, indem ich sie ausspreche. Das kann ich alleine zuhause am Computer nicht.
Ich sehe, dass das Sammeln für die jüngere Generation kein Thema mehr ist. Sie wachsen auf mit Musik und Filmen, die gestreamed werden. Man muss sie nicht mehr besitzen. Wir haben früher Dinge gesammelt –Briefmarken, Sticker, CDs, Bücher. So hat das Sammeln begonnen und einen besonderen Bezug zu Materiellem hergestellt. Heute wird das kaum noch gemacht. Ich sehe so etwas wie einen positiven und einen negativen Materialismus: positiv, wo er einen Bezug zu Dingen, Materialien, Verarbeitungsmethoden herstellt – negativ, wo es in einen oberflächlichen Überfluss geht.
Student:innen von mir bekommen mehrere Millionen Klicks für ihre Beiträge in den Sozialen Medien. Ein Publikum, das sie alleine mit ihrer Kunst nie erreichen würden – sie schaffen sich ihr eigenes Publikum. Die Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit als Künstler:in geworden.