Italienische Schneiderkunst
— eine lebendige Tradition

Fashion and Beauty

In vielerlei Hinsicht haben die Italiener:innen die Kunst des Lebens perfektioniert. Von der Passeggiata nach dem Abendessen bis zum Espresso an der Bar sind es die kleinen Rituale, die das Dolce Vita zum Leben erwecken. Kombiniert man das mit einem tiefen Respekt vor handwerklichem Können und einem beinahe angeborenen Sinn für Stil, findet man einen Bereich, in dem Italiener:innen wirklich überragend sind: in der Schneiderkunst.

(Lebensart) Um die italienische Schneiderei zu verstehen, muss man zunächst ihre Geschichte kennen. Die italienische Herrenmode ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, die von regionalen Traditionen, Innovationen der Nachkriegszeit und einem nationalen Selbstverständnis geprägt ist, das Kunst, Handwerkskunst und Stil höher gewichtet als reine Verfeinerung. Während Städte wie Mailand und Florenz eine entscheidende Rolle bei der Definition des italienischen Stils gespielt haben, sind es Neapel, Rom und in gewissem Maße auch Bologna, die die geistige Heimat der italienischen Schneiderei darstellen. Jede dieser Städte hat ihre eigene Schule und ihre eigene Herangehensweise an Schnitt und Konstruktion, aber alle haben eines gemeinsam: die Ablehnung der strengen Regeln, die den Großteil des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu dominieren schienen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die italienischen Schneider:innen, sich eine eigene Identität zu schaffen, die sich von dem vorherrschenden britischen Einfluss unterschied, der bis dato als Verkörperung der Zivilisiertheit galt. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er-Jahre fiel mit dem goldenen Zeitalter des italienischen Kinos zusammen, und Schauspieler wie Marcello Mastroianni, Vittorio Gassman und sogar der junge Marlon Brando trugen in neapolitanischen Jacken und römisch geschnittenen Anzügen dazu bei, der Welt eine neue Art der Schneiderkunst zu vermitteln, eine die naturalistisch und ungezwungen daher kam. Unterdessen begannen Institutionen wie Brioni, die klassische Herrenmode neu zu denken: Mit leichten Konstruktionen und präzisen Linien brachen sie mit dem traditionellen Bild, dass Maßkonfektion schwer und streng reserviert sein müsse.

Ein italienischer Anzug ist nicht nur eine Frage des Stils, er spiegelt eine Lebensart wider.

Was das italienische Tailoring heute ausmacht, ist der Respekt vor der Tradition gepaart mit einer gewissen Lässigkeit. Im Kern geht es um eine weichere Konstruktion: Sakkos sind oft nur leicht oder gar nicht gepolstert, verfügen über eine reduzierte Einlage und kommen mit weniger innerer Verstärkung aus. Dadurch fällt das Kleidungsstück auf natürliche Weise und passt sich dem Körper des Trägers an, statt ihm eine Form aufzuzwingen. Die neapolitanische Jacke ist vielleicht das deutlichste Beispiel: Ihre spalla camicia-Schulter ahmt den Ärmelansatz eines Hemdes nach und sorgt so für einen lockeren und bequemen Sitz. Die Ärmel sind oft leicht gepufft, die Revers sind breiter und geschwungen, und die Vorderseiten sind offen – all das trägt zu einem Look bei, der weniger konstruiert wirkt als bei britischen oder amerikanischen Anzügen, aber dennoch raffiniert ist.

Farbe und Stoff sind ebenfalls Teil der Gesamtwirkung. Generell spiegeln britische Anzüge eher das Klima wider, aus dem sie stammen, und sind dunkler, schwerer und gedämpfter. Die italienische Schneiderei hingegen wirkt in jeder Hinsicht leichter. Mit dem Schwerpunkt auf atmungsaktiven Stoffen wie Leinen, Baumwolle und Fresco-Wolle sind italienische Anzüge für Bewegung und Leichtigkeit gebaut und bieten eine figurfreundlichere Silhouette im Vergleich zu den streng strukturierten Tweeds und dichten Kammgarnstoffen, die in der englischen Schneiderei bevorzugt werden.

 

Von Neapel bis Florenz, von Rom bis Mailand bleiben familiengeführte Häuser ihren regionalen Wurzeln treu – mit handgefertigten Silhouetten statt maschineller Produktion, wie man hier bei Liverano & Liverano sieht.

Diese Unterschiede werden in den Ateliers, die es noch überall in Italien gibt, bewahrt und gefeiert. Von Neapel bis Florenz, von Rom bis Mailand setzen sich familiengeführte Häuser weiterhin für ihre regionalen Identitäten ein – etwa mit Sakkos, die sich dem Körper anpassen und deren Form nicht von Maschinen, sondern von geübten Händen bestimmt wird. Ob die fließenden Linien der neapolitanischen Schneiderei Sartoria Solito oder die Eleganz von Liverano & Liverano in Florenz – diese Ateliers halten das Traditionshandwerk mit jeder handgenähten Naht am Leben.

Die italienische Sartorie hat etwas unaufdringlich Überzeugendes an sich. Jedes Detail wirkt gewollt, jede Silhouette durchdacht, die richtige Balance zwischen traditionellem und modernem Stil gefunden. Die italienische Schneiderkunst schafft es, entspannt zu wirken, ohne jemals nachlässig zu sein. Das ist der Unterschied zwischen dem Anziehen eines Anzugs und dem Wohlfühlen darin. Von der weichen Schulter bis zur Brusttasche im Barchetta-Stil verleiht jede Wahl einen Hauch von Charme und eine ruhige Eleganz – auch wenn Sie nicht mit einem Gelato in der Hand über eine Piazza schlendern. Letztendlich ist ein italienischer Anzug nicht nur eine Frage des Stils, er spiegelt eine Lebensart wider.

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Brett F. Braley-Palko
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