Häuser, in denen der Geist
der Kunst fortlebt
Was heißt es eigentlich, kunstvoll zu leben? Inspiration finden wir oft, wenn wir uns in den Häusern anderer Menschen befinden – insbesondere in denen, die mutiger, glamouröser und mit einem ausgeprägten Sinn für das Leben in seiner höchsten Form leben. Das Mittelmeer, seit langem ein Ziel für alle, die auf der Suche nach Klarheit, Sinnlichkeit und Flucht sind, hat mehr als genug solcher Künstler:innen-Residenzen zu bieten. Maison Ë hat fünf von ihnen besucht.
(Artist Residences)Das Betreten von Häusern, die einst von Künstler:innen bewohnt und später hinterlassen wurden, ist wie eine Reise in eine andere Welt. An solchen Orten wird die Romantik des Alltags durch sorgfältige arrangierte Objekte, die Farben und Werke an den Wänden, den Weg durch den Garten und den Rahmen eines Ausblicks sichtbar. Es sind Räume, die nicht nur zeigen, wie die Menschen gelebt haben, sondern auch, wer sie zu sein wünschten. Sie erinnern uns daran, dass ein Haus mehr sein kann als eine Unterkunft. Es kann eine Linse sein, ein Manifest, eine Welt für sich. Maison Ë hat fünf dieser mediterranen Residenzen besucht, in denen Kunst und Leben einst miteinander verwoben waren – und in denen noch immer Spuren von beidem zu finden sind.
Eine aus römischen Ruinen errichtete Villa. Ein krebsroter Kubus, erdacht von einem provokanten Schriftsteller. Ein provenzalisches Gasthaus, das zum Museum wider Willen wurde. Ein Couture-Refugium mit dem Gerüst eines ehemaligen Klosters. Das Refugium eines Surrealisten, das zum Künstlerwohnsitz wurde. Jedes dieser Häuser zeigt eine andere Version eines Lebens, das den Ideen gewidmet ist – und dem, was bleibt, wenn die Bewohner:innen längst gegangen sind.
VILLA SAN MICHELE
Capri
Viale Axel Munthe, 34
80071 Anacapri (NA), Italien
+39 (0) 81 837 14 01
Für die Öffentlichkeit zugänglich
villasanmichele.eu
Hoch über dem Golf von Neapel steht die Villa San Michele auf den nördlichen Klippen von Capri. Der schwedische Arzt und Autor Axel Munthe begann um die Wende zum 20. Jahrhundert mit dem Bau des Hauses und nutzte römische Ruinen und geborgene Fragmente, um seinen Traum von einem Ort zu verwirklichen, der „offen für Sonne und Wind und die Stimme des Meeres“ ist.
Die Villa wurde zu einem komplexen Ausdruck seiner Weltanschauung – einer Synthese aus Medizin, Mystik und Ästhetik. Munthe stellte eine bemerkenswerte Sammlung ägyptischer, etruskischer und römischer Altertümer zusammen, darunter eine 3.200 Jahre alte Sphinx aus rotem Granit, die über der Balustrade des Gartens thront. Der Garten selbst ist ein sorgfältig komponierter, mit Glyzinien, Zitrusfrüchten, Zypressen und Weinreben bewachsener Hang, der die Natur nicht dominieren, sondern ergänzen soll. Das Haus und seine Sammlung wurden zum Thema des internationalen Bestsellers Die Geschichte von San Michele, der einst für einen Film vorgesehen war, der jedoch nie realisiert wurde. Heute können Besucher:innen die Villa und ihr Gelände erkunden. Was bleibt ist das Gefühl, dass dies weniger ein Zuhause als vielmehr eine Hommage an das Licht, den Himmel und die Zeit war.
CASA MALAPARTE
Capri
Für die Öffentlichkeit geschlossen.
Spezielle Events auf Anfrage möglich.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Insel thront die krebsrote Casa Malaparte über dem Meer auf der Punta Massullo, deren geometrische Form sich an die rauen Kalksteinfelsen schmiegt. Sie wurde in den 1930er-Jahren von dem Schriftsteller Curzio Malaparte – geboren als Kurt Erich Suckert – entworfen, einem Kriegsveteranen, politischen Chamäleon und Provokateur, der ein Haus wollte, das einzig seinen eigenen Stil widerspiegelt. „Casa come me“, nannte er es – ein Haus wie ich.
Ursprünglich in Zusammenarbeit mit dem rationalistischen Architekten Adalberto Libera entworfen, ist das Endergebnis weitgehend Malaparte zu verdanken, der die Pläne aufgab und den Bau selbst leitete. Das Haus zeichnet sich durch sein Flachdach aus, das über eine dramatische Außentreppe zugänglich ist, sowie durch seine unregelmäßigen Innenräume: ein großzügiges Wohnzimmer, ein strenger Essbereich und Fenster in verschiedenen Größen, die das Meer einrahmen.
Malaparte lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1957. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte verfiel das Haus durch Witterungseinflüsse und Vernachlässigung. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde es von seinem Großneffen Niccolò Rositani sorgfältig restauriert, befindet sich heute in Privatbesitz und wird von Malapartes Nachkommen gepflegt. Obwohl das Haus nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist, taucht es gelegentlich in Modeshootings und besonderen Projekten auf – bekanntestes Beispiel ist Jean-Luc Godards Film Le Mépris von 1963, der den Platz des Hauses in der Filmgeschichte festigte und ihm ein neues Leben gab. Derselbe Geist tauchte in Karl Lagerfelds Fotoserie von 1997 und in der Laufstegshow 2024 von Jacquemus wieder auf, die beide von der strengen Geometrie und der romantischen Anziehungskraft des Hauses angezogen wurden – eine Silhouette, die als Symbol des mediterranen Modernismus weiterlebt.
LA COLOMBE D’OR
Saint-Paul de Vence
06570 Saint-Paul de Vence, Frankreich
+33 (0) 4 93 32 80 02
Nur mit Reservierung geöffnet
la-colombe-dor.com
La Colombe d’Or liegt inmitten des mittelalterlichen Bergdorfs Saint-Paul de Vence an der Côte d’Azur und wurde in den 1920er-Jahren als Drei-Zimmer-Gasthaus mit einfacher provenzalischer Küche und Blick auf das Tal eröffnet. In den 1940er-Jahren hatte es sich still und leise in ein Museum verwandelt. Künstler:innen, die aus dem besetzten Paris flohen – Braque, Léger, Calder, Chagall – kamen mit kaum mehr als Farbe und Charme und boten Gemälde statt Geld an. Paul Roux, der Gründer des Gasthauses und selbst ein Amateurmaler, nahm sie auf und hängte die Werke ohne viel Aufhebens auf.
Picasso hat hier zu Mittag gegessen. Ebenso James Baldwin. Simone de Beauvoir und Sartre waren dafür bekannt, dass sie sich hier ein Zimmer nahmen. Ein überdimensionales Calder-Mobile schwebt jetzt über dem Pool und dreht sich sanft in der Nachmittagsbrise. Ein Wandgemälde von Léger, das die namensgebende Taube des Gasthauses zeigt, schaut von der Terrasse aus zu. Im Speisesaal hängen an den Wänden Originalwerke von Matisse, Delaunay und anderen, die immer noch Teil der alltäglichen Inszenierung sind – Bouillabaisse, gekühlter Rosé, eine Partie Karten. Die Zimmer sind bescheiden geblieben – weiß getünchte Wände, knarrende Dielen und Himmelbetten –, aber die Geister sind es nicht. In den 1960er-Jahren wurden mehrere Gemälde aus dem Speisesaal gestohlen; das von Chagall wurde zurückgelassen. Berichten zufolge schimpfte er: „Ich bin ein bedeutender Künstler! Warum nicht meine?“ Es kommen immer noch neue Werke hinzu – eine Keramik von Sean Scully ruht jetzt am Pool. Die Familie Roux hält das Haus so, wie es immer war: diskret, unprätentiös und mit viel Charme. Das handgemalte Schild am Tor sagt alles: Ici on loge à cheval, à pied ou en peinture – Unterkunft für diejenigen, die zu Pferd, zu Fuß oder mit einem Gemälde in der Hand unterwegs sind.
VILLA LA PAUSA
Roquebrune-Cap-Martin
Nur auf Einladung geöffnet
chanel.com/au/about-chanel/la-pausa
Weiter östlich, auf einem nach Jasmin duftenden Hügel in Roquebrune-Cap-Martin, blickt die Villa La Pausa auf das Meer und die Olivenhaine, die sich bis nach Monaco und zur italienischen Grenze erstrecken. Das 1928 von Gabrielle „Coco“ Chanel erbaute Haus war als Zufluchtsort gedacht. Die Architektur des von Robert Streitz entworfenen Hauses spiegelt die klösterliche Klarheit ihrer Jugend wider, mit einem geschlossenen Innenhof und einer Treppe, die dem Kloster von Aubazine nachempfunden ist, in dem sie aufwuchs.
Ein Jahrzehnt lang wurde La Pausa zu einem Treffpunkt für den inneren Kreis von Chanel. Dalí und Gala wohnten in dem Gästehaus neben der Kapelle. Misia Sert spielte im mauvefarbenen Samtsalon auf dem Klavier. Christian Bérard tanzte barfuß auf Perserteppichen. Chanels Tage folgten ihrem eigenen Rhythmus: späte Vormittage hinter verschlossenen Türen, lange Mittagessen mit Roastbeef und Witz, Nachmittage mit Tennis oder Erholung unter Olivenbäumen, Abende am Tisch unter Hängelampen. Oft blieb Chanel stehen, eine Hand in der Tasche, und erzählte Geschichten mit schneidendem Charme und unverkennbarer Präsenz.
Als Coco Chanel das Haus 1953 verkaufte, ging es in andere Hände über. Wendy Reves gestaltete das Schlafzimmer um; die Möbel wurden verteilt. Chanel – das Unternehmen – erwarb die Villa 2015 zurück und unter der Leitung des Architekten Peter Marino wurde sie sorgfältig restauriert. Das ursprüngliche vergoldete Kopfteil des Bettes wurde wiederhergestellt, Cocos elfenbeinfarbene Steppdecke nachgebildet. Das Haus sieht jetzt so aus, als wäre die legendäre Designerin gerade im Garten spazieren. Heute ist La Pausa Teil des Chanel Culture Fund und beherbergt wieder Künstler:innen und Schriftsteller:innen. Es ist nicht für die Öffentlichkeit zugänglich und kein Hotel. Die Zahl der Gäste ist gering, Aufenthalte sind selten. Aber die Absicht bleibt dieselbe: Raum für Arbeit, Nachdenken und Gespräche zu bieten. Ein Haus, das für die Stille zwischen den Kapiteln gebaut wurde – und in vielerlei Hinsicht ist es wieder genau das.
MAISON DORA MAAR
Ménerbes
58 Rue du Portail Neuf, 84560 Ménerbes, Frankreich
+33 (0)4 90 72 54 70
Offen für die Öffentlichkeit und für Künstlerstipendien auf Antrag
maisondoramaar.org
Im Westen des Luberon, im Dorf Ménerbes, schmiegt sich ein helles Steinhaus an den Hang und blickt auf Weinreben und Lavendelfelder. Hierher zog sich 1944 Dora Maar, Künstlerin, Surrealistin und einstige Muse von Picasso, nach dem Ende ihrer turbulenten Affäre zurück. Das mit ihrem eigenen Geld gekaufte Haus aus dem 18. Jahrhundert wurde zu Maars Zufluchtsort, weit weg von den Salons und dem Schatten von Paris, wo sie lange Zeit nur eine Nebenrolle gespielt hatte.
Maar kam jeden Sommer und blieb stets monatelang. Sie malte, gärtnerte und wanderte allein durch die gepflasterten Gassen, zog die Vorhänge zu und hielt die Welt auf Abstand. In Ménerbes war sie nicht mehr die weinende Frau auf Picassos Gemälden, sondern eine Figur, die sie für sich selbst beanspruchte – introspektiv und bewusst aus dem Blickfeld.
Nach ihrem Tod 1997 ging das Haus in den Besitz von Nancy Brown Negley über, einer texanischen Kunstmäzenin, die seine seltsame, aufgeladene Aura erkannte. Anstatt es in eine Denkmal zu verwandeln, restaurierte sie es und öffnete seine Türen erneut – diesmal für andere Künstler:innen. Seit 2007 beherbergt das Dora Maar Cultural Center regelmäßig Schriftsteller:innen, Komponist:innen, Wissenschaftler:innen und Maler:innen für Aufenthalte in einer Umgebung, die wie geschaffen ist für Selbstreflexion. Das Innere hat seine Patina bewahrt: hohe Decken, abgenutzte Fliesen, langgestreckte Fenster, die einen Hauch von Thymian und Kiefern hineinlassen.
Das Hôtel de Tingry, ein denkmalgeschütztes Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, wurde 2020 an die Einrichtung angebaut, um ihren Wirkungskreis zu erweitern und mehr Raum für die Entfaltung von Ideen zu schaffen.
„Ein Haus kann mehr sein als eine Unterkunft.
Es kann eine Linse sein, ein Manifest, eine Welt für sich.“