Fischpoesie am See
Lukas Nagl nimmt seinen Fischern stets den gesamten Fang ab und verarbeitet die Fische, von Kopf bis Schwanzflosse, vor prachtvoller Kulisse im Restaurant Bootshaus. Dann wachsen im Kochwasser Hechtblumen, entstehen „Seeshimi“ und ein Würzwunder namens Traunsee-Garum.
(Wasser)Kürzere Lieferwege gibt es nicht: Was Benjamin Mayr frühmorgens im Traunsee fängt, schippert er wenig später durch einen schmalen, kurzen Zufahrtskanal direkt ins Restaurant Bootshaus. Dort, am Seeufer, arbeitet mit Lukas Nagl einer der besten Köche Österreichs. Nagl nimmt dem Berufsfischer Mayr wie auch dessen Kollegen stets den gesamten Tagesfang ab, auch kleine Fische, den scheinbar uninteressanten Beifang, den man früher abwertend als Katzenfische bezeichnete. Für Lukas Nagl ist das eine Selbstverständlichkeit, er ist damit unter Köch:innen dennoch die Ausnahme. Auf Sansibar, wo er einst als Koch arbeitete, erlebte er, wie die Fischer alles, was sie aus dem Meer zogen, an einen Stock banden und diesen versteigerten. „Ich wusste, ich will es in Österreich genauso machen.“
Welche Bedeutung das Element Wasser für das Restaurant Bootshaus im Seehotel „Das Traunsee“ hat, ist für die Gäste schwer zu übersehen. Allein die Lage: Durch Panoramafenster und von der Terrasse aus hat man die dunkle Weite dieses Sees, des tiefsten des Landes, im Blick, kann im Abendlicht die letzten Boote gen Ufer gleiten und Wasservögel ihre ruhigen Runden ziehen sehen oder so manch späte:n Schwimmer:in beobachten, der oder die nach dem Spa ein Stockwerk darunter im glänzenden Schwarz des Sees Abkühlung sucht. Zur Rechten thront der mächtige Traunstein, der je nach Witterung bisweilen seine Spitze in den Nebel taucht oder in seiner ganzen Pracht in Rosétönen leuchtet. Manchmal sieht man am gegenüberliegenden Seeufer das Städtchen Gmunden, ein anderes Mal endet die Sicht im Irgendwo der Spiegelfläche, die bei Sturm nasswütend zu bersten pflegt.
Nur drei österreichische Seen sind größer als der Traunsee; seine Wasserqualität ist hoch, der Variantenreichtum an Wasserwesen ebenso. Diese tragen Namen wie Aalrutte (deren fette Leber genauso wie Foie gras eine Delikatesse ist), Brachse, Riedling, Rotfeder oder Perlfisch. „Meistens bekommen wir zwischen fünf und zehn verschiedene Fische. Manchmal sind es aber 25, 30 Arten.“ Multipliziert mit Lukas Nagls bemerkenswerter Kreativität ergibt diese Vielfalt die mit Abstand spannendste Fischküche des Landes.
Nagl hat einen Blick auf Zutaten, der in seiner poetischen Eigenwilligkeit selbst im internationalen Vergleich ganz selten ist.
Altes Wissen, neue Techniken: So fasst dieser trotz Erfolgs bescheiden, neugierig und bodenständig gebliebene Koch seinen Zugang zusammen. Man darf hinzufügen: Nagl hat einen Blick auf Zutaten, der in seiner poetischen Eigenwilligkeit selbst im internationalen Vergleich ganz selten ist. Er sieht Formen, die erst durch bestimmte Schnitte oder den Einsatz von Hitze entstehen – ein Beispiel: Hechtfleisch, das er so schneidet, dass es sich in heißem Wasser zu Blüten zusammenzieht. Er lässt sich von Zutatenkonsistenzen zu ungeahnten Einsatzmöglichkeiten inspirieren, sieht in gestockter Heumilchcreme etwa eine milchige Auster, und begreift selbst das kulinarische Potenzial unbeliebter Seebewohner – der Dreikantmuschel etwa, einer einst per Motorbooten eingeschleppten invasiven Art, rückt er zu Leibe, indem er ihr eine Karriere als Zutat für köstlichen Safransud ermöglicht. Nicht zuletzt versteht er es, Zubereitungsmethoden aus Fernost auf das hiesige Binnengewässergetier anzuwenden.
Lukas Nagl verbrachte mehrere Monate in Japan, wo er lernte, dass Sashimi nicht einfach nur roher Fisch ist, sondern der Fisch einiges an Vorbehandlung erfährt. Seine Version, unter anderem mit Reinanke und Saibling, der nach fünfjähriger Schonzeit im Traunsee seit kurzem wieder gefangen werden darf, nennt er „Seeshimi“. In Japan erkundete Nagl das Wesen von Koji-Sporen, die man unter anderem für Miso oder Würzsaucen braucht, ebenso wie die Herstellung von Katsuobushi: Was im Original getrockneter und geräucherter Bonito ist und als Grundlage für Dashi-Brühen zum Einsatz kommt, wandelt er mit Karpfen und der Selchkammer im Restaurant zu einer österreichischen Variante ab.
Den Fischereien den gesamten Fang abzunehmen und die einzelnen Fische von Kopf bis Schwanzflosse zu verarbeiten, bedeutet für Nagls Team einiges an Handarbeit. Nicht nur müssen Teile wie die Innereien separiert werden – Einsatzgebiete: Hechtkutteln, Barschbottarga, Karpfenrogenmayonnaise –, es gilt auch, den Beifang und die Karkassen zu nützen. Eine wichtige Säule in den diversen Betrieben der Gastgeberfamilie Gröller (das Bootshaus gehört ebenso dazu wie das 2024 eröffnete Lokal Belétage und das Wirtshaus Poststube 1327) ist das Traunsee-Garum: Viele Gerichte werden mit dieser fermentierten Fischsauce von komplex-eleganter Würzkraft abgeschmeckt. Man kann das Süßwassergarum übrigens auch kaufen, es wird von der Firma Luvi Fermente vertrieben, die Lukas Nagl mitbegründet hat.
Das Element Wasser ist für das seenreiche Salzkammergut nicht nur aufgrund des Fischfangs und des Badetourismus von zentraler Bedeutung. Der wirtschaftliche Aufstieg dieser Gegend ist eng mit dem Salzabbau verknüpft – das Salz wird mithilfe von Wasser aus dem Berg gelöst. Lukas Nagl denkt beim Kochen immer wieder über Wasser nach. Welche Auswirkung die Wasserhärte auf den Genuss haben kann, ist ihm nicht zuletzt dank seiner Japanreisen bewusst: „Dass ein Dashi in Japan immer so seidig schmeckt, hängt schon auch mit den Zutaten zusammen, vor allem aber mit der Wasserhärte.“ In den Betrieben der Familie Gröller am Traunsee sind übrigens Wasserfilter ebenso im Einsatz wie eine Seewasserwärmepumpe zum Heizen.
Lukas Nagl denkt
beim Kochen immer
wieder über Wasser nach.
Ein gelungenes Menü, so meint Nagl, müsse einen gewissen Wasseranteil im Verhältnis zu Feststoffen haben, damit es bekömmlich ist, eine gewisse Leichtigkeit bewahrt und über die Stunden nicht zu anstrengend wird. Saucen, die so konzentriert sind, dass man vor lauter reduzierter Dichte nicht mehr schmeckt, woraus sie eigentlich bestehen, vermeidet Lukas Nagl. Er widmet sich auch gern dem Thema Gemüsewasser: „Was gibt es Besseres als eine Scheibe geröstetes Brot mit etwas Knoblauch, die man in Tomatenwasser taucht?“ Zucchini dehydriert er, entzieht ihnen also das wenig aromatische, gemüseeigene Wasser, und rehydriert sie mit Flusskrebs-Dashi, das deutlich mehr umami liefert. Aus geräucherten Zanderköpfen und Abschnitten von Roggenbrot vom Hotelfrühstück macht Nagl eine Art Tee, einen Auszug: „Das schmeckt unglaublich gut, irgendwie nach Österreich, irgendwie auch gar nicht.“