Das Element Luft ist im Vyn, an der südostschwedischen Küste, allgegenwärtig. Das Restaurant und Hotel liegt zwischen Feldern, Weiden und Meer, der Himmel erstreckt sich weit über das flache Land. Als Jäger hat Daniel Berlin ein Faible für Flugwild, er setzt auf Dry-Aging und Temperaturkontraste.
(Luft) Wie viel Himmelsweite gehört zu einem Stück Land? In Österlen, einem Landstrich in Südostschweden, wo die Siedlungen Namen wie Gislövshammar, Brantevik und Simrishamn tragen, lautet die Antwort: schier unendlich viel. Keine Erhebung, keine hohe Häuserflucht durchbricht den Rundumblick auf Himmelblau, auf Wolkenweiß und Nebelgrau. Und auf scheinbar schwarz blinkende Perlenketten aus Gänsen und anderen Vögeln, die hoch in den Lüften dieses flache Land überqueren, das sich erst am Meereshorizont sanft hinunterwölbt.
Hier ist das Vyn zu finden, das Hotel und Restaurant von Daniel Berlin. Die Gäste nähern sich dem Anwesen über Feldwege, das Meer mit seinem Strand aus tiefschwarzen, nassglänzenden Steinen liegt nur wenige hundert Meter entfernt. Wer seinen Geruchssinn scharfstellt, merkt, wie der Wind eine unverwechselbare Melange aus Meeresduft und feuchter Erde von den nahen Weiden herträgt. Auf Menschen trifft man hier kaum. Bei klarem Wetter liegt die dänische Insel Bornholm in Sichtweite, die großflächigen Fenster im Gastraum des Vyn rahmen sie ein.
Im Herbst 2023 hat Daniel Berlin an diesem Ort ein neues Kapitel aufgeschlagen, das Vyn war damals die meistbeachtete Neueröffnung Skandinaviens. Die Jahre davor waren bei ihm von denkbar starken Hell-Dunkel-Kontrasten geprägt: Sein Restaurant Daniel Berlin Krog, ebenfalls in der Region Österlen, trug erst seit kurzem zwei Michelin-Sterne, als seine Frau Anna an Krebs erkrankte. Der Koch schloss das Lokal im Jahr 2020, ein paar Monate später verstarb sie; die gemeinsamen Zwillinge waren damals noch ganz klein.
Für das Vyn, das Daniel Berlin gemeinsam mit Sommelier Joakim Blomster führt, wurde ein typischer Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert aufwendig umgebaut. Der Gegensatz zwischen Aperitifbereich und Gastraum könnte, was den Luftraum betrifft, nicht größer sein: Die ersten Miniaturgänge werden in der ehemaligen Scheune serviert, deren hölzerne Dachbalkenstruktur hoch über dem Boden geradezu wie eine Gewölberippe wirkt und den Raum zu einer ruralen Kathedrale formt. Hier hat man auch freien Blick auf die offene Küche von Daniel Berlin und seinem Team. Für den Hauptteil des Menüs geht es dann in den früheren Schweinestall, einen gedrungenen Raum von konzentrierter Atmosphäre – mit Ostseeblick.
Das Element Luft ist für Daniel Berlin, der sich als unverbesserlichen Landmenschen bezeichnet, von enormer Bedeutung. Auch wenn man sie erst wahrnimmt, wenn man hinter die Dinge blickt – Luft selbst ist schließlich nicht sichtbar, anders als Feuer, Wasser oder Erde. Da wäre zunächst einmal seine Vorliebe für Flugwild. Er ist selbst Jäger, weiß also über Wildentengewohnheiten genauso Bescheid wie über die Fluggeschwindigkeit von Schneehühnern oder die mittelmäßigen Flatterkünste der pummeligen Rebhühner, die in den Feldern von Jagdhunden herausgefordert werden. Mehrmals im Jahr, erzählt Daniel Berlin, jage er Wildvögel. „Ich liebe es, Vögel zu servieren, was im Fine-Dining-Bereich ja eher unüblich ist. Vielleicht einmal eine Wachtel, eine Taube, viel mehr gibt es da nicht. Man muss auch wirklich wissen, wie man ihr Fleisch behandelt.“ Einmal habe er ein ganzes Vogelmenü gekocht, erzählt er, unter anderem mit Elstern, und die geschmackliche Vielfalt des Fleischs habe dank Meeresvögeln sogar die Abteilung Austern abgedeckt.
„Ich liebe es, Vögel zu servieren, was im
Fine-Dining-Bereich ja eher unüblich ist.“
Luft prägt auch Daniel Berlins Küche: von der für ihn so wichtigen Methode des Dry-Agens in trockener kalter Luft, Details wie schaumig aufgeschlagenem Fasan- oder Stockentenfett bis hin zu den spannenden Temperaturkontrasten, für die er so gepriesen wird. Diese erfordern es, dass seine Gerichte so rasch wie möglich zu den Gästen kommen – Daniel Berlin dekoriert bewusst kaum. Ein bekanntes Beispiel ist sein Signature Dish, die „Hot & Cold Scallop“: eine Jakobsmuschel, die zur Hälfte roh, glatt und kühl und zur Hälfte karamellisiert-heiß serviert wird, mit Aromen von Dill, Apfel und Zuckertang. Erreicht wird der Kontrast durch eine gefrorene Metallplatte, die beim Braten auf die Jakobsmuschel gelegt wird, „und, wichtig, einen eiskalten Teller beim Servieren“. Oder der heiße Plumcake in Legosteinformat, auf dem in der Küche eine geeiste Scheibe Butter platziert wird. Auf Crushed Eis kommt ein Schälchen mit Fjord-Shrimps und eiskaltem Rahm vom Fjäll-Rind, auch Schwedische Bergkuh genannt, drei verschiedenen Pflaumensorten in Form von Fruchtleder, frischer Frucht und weichem Gelee sowie Kren und Pflaumenkernöl.
Auch Sommelier und Kompagnon Joakim Blomster arbeitet viel mit Luft. Er dekantiert und belüftet nicht nur Rotweine oder strukturstarke Weißweine, sondern auch Champagner – wenn die Winzer es wollen. Nur wenn man den Wünschen der Winzer in Sachen Belüften nachkomme, glaubt Blomster, sei die Seele eines Champagners oder Weins zur Gänze zu spüren.
Ohne Luft keine Musik – und Musik spielt nicht nur im Vyn eine wichtige Rolle, sondern war in Daniel Berlins Leben immer schon von Bedeutung: „Mein Vater hat Blues geliebt, als Kind habe ich B. B. King in Malmö gesehen. Ich habe Schlagzeug und Bass gespielt. Heute schleife ich meine Kinder in Vivaldi-Kirchenkonzerte, auch wenn sie nach ein paar Minuten wieder gehen wollen.“ Ein stummes Restaurant habe er nie verstanden, sagt er. „Stille kann gut sein, ich höre ihr auch gern bewusst zu. Aber ein Restaurant muss für mich ein fröhlicher Ort sein.“ Das Sounddesign für das Vyn stammt von einem Studio aus Malmö, die Dramaturgie der Playlist wurde gemeinsam minutiös erarbeitet: Wer um Punkt 18 Uhr durch den langen, lichtdurchfluteten Gang mit seitlichem Meerblick Richtung Restaurant schreitet, wird von den erhebenden Klängen von Ennio Morricones „L’estasi dell’oro“ angeschoben und nahezu zum Schweben gebracht. Später, mit fortschreitender Dämmerung, fluten Gunnar Wiklund mit „Minns Du Den Sommar“ und Richard Hawley mit „There’s a Storm a Comin’“ die Räume. „Mit der Musik im Vyn will ich meinen Gästen etwas mitgeben“, sagt Daniel Berlin, zusätzlich zu den Sinnen via Augen, Mund und Nase. Und er meint das Mitgeben durchaus auch wörtlich: Auf Anfrage bekommen die Gäste einen QR-Code mit seiner Playlist.