Die Kunst des
perfekten Bogens
Es gibt Momente in der Geschichte des Designs, in denen eine einzige Geste eine ganze Ära neu definiert. Im Italien der Nachkriegszeit war dies 1947 der Fall, als die Handwerker:innen in den Gucci Werkstätten, einen gebogenen Bambushenkel an einer Lederhandtasche anbrachten. Dieses Detail, das dem Einfallsreichtum der Kriegszeit entsprang, wurde zu einem unverwechselbaren Markenzeichen, das den Namen Gucci in das Lexikon des ikonischen Designs eintrug.
(Handwerk) Die Bamboo 1947 ist nicht ganz zufällig entstanden, sondern lässt sich auf die Spazierstöcke, die der Sohn von Guccio Gucci sammelte, zurückführen. In Anlehnung an diese Inspiration entwarfen die florentinischen Kunsthandwerker:innen von Gucci eine kompakte, sattelartige Handtasche, die von einem Bambusbogen gekrönt wurde. Im Zuge der Rationierungen des Zweiten Weltkriegs erwies sich das Bambusrohr – leicht, langlebig und trotz der Beschränkungen für Leder und Metall noch importierbar – als praktische Lösung und Symbol zugleich: exotisch und doch zugänglich, raffiniert und doch in der toskanischen Tradition verwurzelt.
Hollywood wurde bald darauf aufmerksam. Die unverwechselbare Silhouette der Tasche mit ihrem markanten Bambushenkel fand bei der Filmelite der 1950er-Jahre Anklang und verhalf ihr zu einer seltenen kulturellen Beständigkeit. Die Tasche zierte die Arme internationaler Filmstars auf und abseits der Leinwand und baute im Stillen eine Aura zeitlosen Chics auf. Jahrzehnt für Jahrzehnt blieb die Bamboo Bag ein fester Bestandteil des Hauses Gucci.
Eine Bamboo nimmt nicht einfach nur einen Platz im Kleiderschrank ein; sondern lebt als Symbol für zurückhaltenden, zeitlosen Stil. Im Gegensatz zu den flüchtigen Trends, existiert die Bamboo 1947 außerhalb der Zeit. Ihre Silhouette, die sich seit den späten 1940er-Jahren kaum verändert hat, zeugt von Raffinesse und der Kraft des Wesentlichen. Das Design verzichtet seit jeher auf überflüssige Verzierungen und setzt stattdessen auf klare Linien und authentische Materialien. Ob aus klassischem schwarzem Kalbsleder, glänzendem Lackleder oder saisonalen Textilien wie Flechtwerk und Canvas – diese Handtasche ist niemals ein Abklatsch oder an kurzlebige Modetrends gebunden. Jede neue Auflage ist eine Verbeugung vor dem Original – zeitlos, nicht statisch, immer wieder erkennbar.
Präzisionsarbeit
Was bei der Bamboo 1947 Bestand hat, ist nicht nur das Design selbst, sondern auch der Prozess der dahinter steckt. Die Herstellung dieser Tasche gleicht einer Choreografie aus Tradition und akribischem Könnens. Feines Leder wird zugeschnitten, gegerbt und geduldig um hölzerne Formen gelegt, bis der Körper der Tasche allmählich Gestalt annimmt. Angeleitet von Handwerkstechniken, die die florentinischen Lederateliers seit den 1940er-Jahren prägen. Auch das Innere ist intelligent konstruiert: eine bauchige, akkordeonartige Struktur sorgt für überraschend viel Stauraum, eine kleine Innentasche mit Reißverschluss sorgt für Ordnung und ein drehbarer Bambusverschluss sichert die Lasche mit einem leisen Flüstern – ein Geheimnis, das nur ihre Trägerinnen erkennen.
Dennoch bleibt der Bambushenkel das poetischste Element von allen. Jeder Henkel besteht aus einem geraden Stück natürlichen Bambusrohrs, das nach seinem idealen Durchmesser und seiner Knotenanordnung ausgewählt wird. Es wird über offenem Feuer erhitzt, bis es so geschmeidig ist, um von Hand zu einem perfekten Bogen geformt zu werden. Sobald das Bambus abgekühlt ist, härtet es zu einer Form aus, die jahrzehntelang halten wird. Anschließend schleifen und polieren die Handwerker:innen die Oberfläche, tragen Klarlack auf und „rösten“ den Bambus vorsichtig, um den für Gucci typischen Karamellton zu erzeugen. Das Ergebnis fühlt sich sowohl robust als auch glatt an. Kein Henkel gleicht dem anderen – jeder trägt die Eigenheiten des Materials und der Hand, die ihn geformt hat. Auf diese Weise sind die Henkel nicht nur Bestandteile, sondern Charaktere in der Erzählung jeder Tasche, die von Individualität durchdrungen sind.
Funktionale Aspekte sind nahtlos in das Handwerk eingewoben. Die Proportionen und der geschwungene obere Henkel der Tasche wurden ursprünglich als bequeme Clutch mit elegantem Faltenwurf am Ellenbogen konzipiert. Heute passt sich die Bamboo 1947 mit zusätzlichen Riemen an das moderne Leben an und ist dadurch vielseitig einsetzbar: Sie kann sowohl über der Schulter als auch in der Hand getragen werden. Der Geist des Designs – geboren aus Erfindungsreichtum und von Hand geformt – bleibt aber dennoch in jedem Stich und jeder Faser sichtbar. Tatsächlich erfordert die Herstellung einer einzigen Gucci Bamboo Bag nach wie vor intensive Handarbeit: Eine Neuauflage der Bamboo 1947 wird aus rund 140 Einzelteilen zusammengesetzt und erfordert etwa 13 Stunden Arbeit. Diese Zahlen zeigen, wie wenig sich die Konstruktion in den letzten acht Jahrzehnten verändert hat und wie sehr das Haus Gucci die traditionelle Handwerkskunst schätzt.
Ein lebendiges Vermächtnis
Die anhaltende Relevanz der Bamboo Bag ist auch ein Verdienst des Dialogs, den sie zwischen Tradition und Innovation aufrechterhält. Die Kreativdirektor:innen von Gucci haben sie im Laufe der Jahre nicht als Museumsstück, sondern als lebendiges Objekt behandelt, das es wiederzuentdecken und neu zu interpretieren gilt. In Frida Gianninis Frühjahrskollektion 2010 erschien die New Bamboo, etwas größer und mit modernen Elementen wie einem abnehmbaren Riemen und Quasten – aber mit der gleichen Hingabe an die Tradition gefertigt. Unter der Leitung von Alessandro Michele wurde der Bambushenkel zu einem eklektischen Stilelement verwoben, das manchmal in kräftigen Farben oder mit verspielten Details kombiniert wurde, aber immer seinen Vintage-Charme behielt.
Zuletzt stellte Sabato De Sarno bei seinem Debüt für Gucci im Frühjahr/Sommer 2025 die Bamboo 1947 in den Mittelpunkt seiner Vision. Auf dem Laufsteg zeigte er die Tasche sowohl in ihrer reinen, klassischen Form als auch in auffallend neuen Ausführungen – darunter einzigartige künstlerische Kollaborationen – als Brücke zwischen Tradition und Experiment. Wie immer ist es aber der gebogene Bambus, der die Seele der Tasche definiert und selbst die avantgardistischste Interpretation auf eine unveränderliche Inspirationsquelle zurückführt.
Bambus neu interpretiert
In diesem Jahr rückte Gucci auf dem Fuorisalone in Mailand (der berühmten Designwoche) den Bambus erneut in den Mittelpunkt. In immersiven Installationen im Kreuzgang eines historischen Mailänder Klosters wurde Bambus als lebendiges Material gefeiert – nachhaltig, skulptural, voller Geschichte. Die Ausstellung mit dem Titel Bamboo Encounters (Bambusbegegnungen) lud zeitgenössische Kreative dazu ein, sich die Möglichkeiten von Bambus neu vorzustellen und die Kluft zwischen Handwerk und Kunst, Vergangenheit und Zukunft zu überbrücken.
In der Zwischenzeit wird in Florenz der Geist der Innovation durch die Tradition in einem intimeren Rahmen fortgesetzt. Im ArtLab von Gucci – dem hochmodernen Zentrum für Handwerkskunst – widmet sich ein spezieller Bamboo Room (manchmal auch liebevoll „Bamboo Lab“ genannt) der Erforschung und Erhaltung dieser Handwerkskunst. Hier schulen erfahrene Handwerker:innen neue Generationen in der Flammenbiegetechnik, während Designer:innen mit subtilen Anpassungen experimentieren. Es ist ein Ort, an dem sich Tradition und Technologie begegnen: Die alten Fertigkeiten werden mit modernen Entwicklungswerkzeugen kombiniert, um sicherzustellen, dass die Bambushenkel auch in Zukunft langlebig, schön und nachhaltig bleiben. Im Grunde genommen hat Gucci seine Ehrfurcht vor der Handwerkskunst der Bamboo Bag institutionalisiert und stellt sicher, dass jeder Henkel, der eine neue Handtasche ziert, mit der gleichen Sorgfalt und Authentizität hergestellt wird wie bereits vor Jahrzehnten. Mit der Bamboo 1947 begegnen wir nicht nur der Geschichte – wir tragen sie mit uns.